Kann das funktionieren oder ist ein Frontal-Vortrag mit Fragemöglichkeit im Chat das Höchste der Gefühle?
Ich war am 20.04.2021 bei ver.di Bildungswerk Niedersachsen (Danke Sarah Sahl) und ver.di Forum Nord (Danke Marc Böhrensen) eingeladen, genau über diese Fragestellung nachzudenken. Der Abend war Teil einer Reihe zum Thema „Deine Bildungsarbeit? 2021 digital!“ und mit 43 Teilnehmer*innen gerade aus beteiligungsorientierter Sicht eine Herausforderung!
Kleiner Spoiler: Klar – geht da mehr 🙂
Mit Hilfe einer Mentimeter-Umfrage haben wir im ersten Schritt gesammelt:
Was Online-Gruppensettings ganz fundamental von Präsenz-Gruppen unterscheidet, ist die Distanz und Isolierung der Teilnehmer*innen – das bringt aber auch neue Möglichkeiten mit sich (zum Beispiel, eine Wienerin mal kurz für einen Workshop in den hohen Norden Deutschlands einzuladen), manche schätzen die Ruhe in der eigenen Umgebung, viele das Fehlen mühsamer Reisewege.
Definitiv fehlen tut aber die nonverbale Kommunikation: Wer setzt sich neben wen? Wer schiebt seinen Stuhl näher, rückt ihn weiter weg von den Nachbar*innen? Wer schaut munter in die Gegend, wer verschreckt in sein Handy? Gestik und Mimik ist am Bildschirm schwer zu erkennen… Das alles erschwert es, sich gegenseitig eizunschätzen und kennenzulernen – unmöglich ist es aber nicht! Man kann sich auch online kennenlernen, interagieren und kooperieren. Es ist nur vielleicht NOCH wichtiger als im Präsenz-Modus, Gruppenprozesse dabei gut im Blick zu haben und zu unterstützen!
Wie man diese Prozesse auch online gut unterstützen kann, haben wir uns entlang der Phasen eines Seminars genauer angeschaut.
Phase 1: Kennenlernen und erstes Beschnuppern
…vor Beginn des Webinars:
Eine gute Möglichkeit, den Kennenlern-Prozess einzuleiten, ist, ihn ganz einfach vor den Seminarbeginn zu verlagern. Dazu eignet sich zum Beispiel ein Padlet ganz hervorragend – die digitale Vorstellrunde mit Padlet haben wir in diesem Beitrag schon mal beschrieben!
Die ver.di-Gruppe hatte schon eine besonders nette Form des Padlets: eine Landkarte, in der alle sich an ihrem Herkunftsort eintragen können! Ich hab sie gleich genutzt, um auch mich kurz vorzustellen:
In einem Seminar von etui wurden die Teilnehmer*innen gebeten, sich mit einem kurzen Video vorzustellen – die Videos wurden dann ein paar Tage vor Webinar-Beginn allen zugänglich gemacht. Das war auch eine nette Möglichkeit, sich schon auf die Gruppe einzustimmen.
In der Vorbereitung für den ver.di-Abend hab ich das Online-Tool nurkurz.online eingesetzt. Dort kann man eine kleine, temporäre Website einrichten. Besucher*innen der Website können Kommentare hinterlassen – das hab ich genutzt, um mich kurz vorzustellen und von den Teilnehmer*innen zu erfragen, worauf sie besonders neugierig sind. 15 Kommentare wurden gepostet – das hat mich gefreut und war wirklich hilfreich für die Gestaltung des Abends! (Hier kannst du meine Vorstellung und die Kommentare nachlesen!)
Wichtig bei all diesen Möglichkeiten der „Flipped Vernetzung“ ist, dass die Beteiligung daran freiwillig und niederschwellig ist und eine Ergänzung zum Webinar an sich darstellt – ausführlich schreibt Nele Hirsch dazu in ihrem Artikel!
Die Vorteile davon liegen auf der Hand: Man kann in Ruhe die Fotos oder Videos der anderen betrachten und sich ein Bild über die (anderen) Teilnehmer*innen machen. Als Trainer*in kann man über gezielte Fragen ein bisschen steuern, was die Teilnehmer*innen über sich erzählen: Nur Fakten, die fürs Seminar relevant sind? Oder auch irgendwas Privates, wie z.B. Hobbies?
Flipped Vernetzung kann übrigens nicht nur für digitale Formate verwendet werden, man kann sie auch sehr gut für Präsenzseminare nutzen! 🙂
…und dann während des Webinars
Dazu kann man Aufstellungen, die wir ja auch im Präsenz-Modus gerne einsetzen, simulieren. In BigBlueButton mach ich dazu einfach ein Slide mit einer Skalierung, die Teilnehmer*innen markieren im Mehrbenutzer*innen-Modus, wo sie sich verorten:
Eine andere, ganz einfache Möglichkeiten ist, Ja-Nein-Fragen zu stellen: Wer zustimmt, macht die Kamera an. Dann hat man auch die Möglichkeit, nachzufragen und die Teilnehmer*innen ein bisschen zum Erzählen zu motivieren.
Was ist super dran: Als Trainer*in kann ich mir rasch einen Überblick über die Zusammensetzung der Gruppe verschaffen – woher kommen die Leute, geografisch aber auch von ihren Einstellungen und Erfahrungen her? Als Teilnehmer*in machts Spaß zu sehen, mit wem ich Gemeinsamkeiten hab‘ oder von wem ich was ganz Neues lernen kann.
Eine wirklich tolle Sammlung netter Kennenlern- oder auch Warm up-Spiele für den Online-Modus findest du auf der Website Wilde Worskhop Spiele!
Phase 2: Warm werden, Vertrauen entwickeln
Ein Klima des Vertrauens ist die Grundvoraussetzung, damit sich auch alle trauen, sich zu beteiligen und aktiv einzubringen – das ist im Präsenz-Seminar ja auch nicht anders. Insofern müssen zu Beginn des Online-Workshops klare Regeln vereinbart werden, wie miteinander gearbeitet werden soll, und, ganz wichtig, Verschwiegenheit muss vereinbart sein. Angesprochen werden sollte da insbesondere, dass keine Screenshots etc. gemacht werden, ohne dass alle dem vorher zustimmen.
Die Technik ist für viele neu und ungewohnt, da gilt es, den Respekt davor schnell abzubauen. Das geht gut, indem man spielerisch an das Ganze herangeht, die Teilnehmer*innen schon beim Einstieg bittet, Kamera und Mikro zu aktivieren, sie dann in den Chat lockt, vielleicht ein kleines Quiz oder eine Online-Umfrage macht. In BigBlueButton setze ich sehr gern den Mehrbenutzer*innen-Modus ein: Da können alle nach Herzenslust mit virtuellen bunten Stiften am Whiteboard malen – ich hab noch keine Gruppe gesehen, der das keinen Spaß gemacht hätte!
Lustige Übungen zur Auflockerung der Stimmung, um die Scheu vor dem Online-Setting zu nehmen findest du auch im Artikel „Pausen online“ oder „Zehn Energizer online„!
Eine vertrauensvolle Atmosphäre entsteht leichter, wenn man sich gegenseitig ein bisschen besser kennenlernt. Das funktioniert zum Beispiel, indem man auch private Einblicke ermöglicht – zum Beispiel:
- Erzähl was über dich, das entweder wahr oder falsch ist – die anderen müssen raten (Zustimmung = Kamera ein). Dann wird es richtig gestellt. Da kann man über Hobbies, Abneigungen, Erfahrungen etc. reden.
- Besonders stolz bin ich auf… (das geht auch gut via Padlet)
- Ein wichtiges Vorbild oder ein Mensch, der mich besonders inspiriert hat. Da kann man auch bitten, dass Fotos mitgebracht werden. Oder alle loggen sich mit dem Namen des Vorbilds ein – Kameras bleiben aus und dann wird geraten, wer sich hinter „Rosa Luxemburg“ verbirgt! Wer enttarnt ist, schaltet seine Kamera ein.
Wenn du auf der Suchen nach Anregung für gute Fragen bist, bietet dieses oder auch dieses Online-Tool Inspiration, allerdings sind leider beide auf Englisch.
Phase 3: Wir arbeiten…
Damit beim aktiven Arbeiten alles gut klappt, ist eines wichtig: Dass für den Einstieg genug Zeit gegeben wurde, die Teilnehmer*innen sich mit der Technik vertraut gemacht haben, sich gegenseitig und dich als Trainer*in kennenlernen konnten und ein Klima des Vertrauens hergestellt worden ist. Also ganz wichtig: Bei diesen ersten Phasen nur ned hudeln, wie man auf gut österreichisch sagt!
…in Gruppen
Eine Gruppe besteht, nach Definition der Gruppendynamik, aus mindestens drei und im Idealfall maximal 15 Personen. Sie entwickeln ein Zusammengehörigkeitsgefühl und eine soziale Struktur, teilen bestimmte Normen und Wertvorstellungen und interagieren untereinander. Je mehr Mitglieder eine Gruppe hat, desto schwieriger wird es, dass alle gut miteinander kommunizieren und interagieren können – im Online-Modus gilt das nochmal mehr als in Präsenz. Um wirklich gut und interaktiv online arbeiten zu können, finden meine Kolleg*innen und ich eine Gruppengröße von maximal zwölf Personen ideal.
Im Workshop kennen wir verschiedene Gruppensettings, die wir auch online einsetzen können:
- das Plenum, in dem alle Teilnehmer*innen mit dabei sind;
- Kleingruppen, die temporär nur für eine Kleingruppenphase oder längerfristig gebildet werden können;
- Tandems, in denen Teilnehmer*innen zu zweit intensiv zusammenarbeiten.
Längerfristige Kleingruppen bieten sich z.B. in längeren oder mehrmoduligen Lehrgängen an. In der Wiener BetriebsrätInnen Akademie, die 2020 fast zwei Monate lang im Online-Modus durchgeführt werden musste, haben wir die aus 20 Personen bestehende Gruppe gebeten, sich in vier fixe Kleingruppen einzuteilen. Von da an wurden alle Kleingruppenarbeiten in dieser Konstellation gemacht. Der Grund: Fixe Kleingruppen geben Stabilität und Sicherheit, in unsicheren Zeiten macht das Sinn. Man muss Leute nicht auch noch dadurch überfordern, dass sie sich ständig auf neue Kolleg*innen einstellen müssen.
Wichtig bei der Gruppenzusammensetzung: Technische Kompetenz halbwegs gleich verteilen!!! 🙂
In unserer REFAK haben wir ein eigenes Seminar zum Thema Arbeit in Kleingruppen, das im Lockdown auch als Online-Seminar und mit Fokus auf Online-Gruppen durchgeführt wurde – hier findest du die wirklich lesenswerte Nachlese mit vielen Tipps und Anregungen von unserenTrainer*innen Margret Steixner und Peter Hofmann.
…in Gruppenräumen
Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Temporäre Gruppenräume – die sogenannten Breakout-Rooms – oder dauerhaft eingerichtete Räume.
Temporäre Räume – Breakout-Rooms
Superpraktisch für kurze Gruppenphasen, man kann die Gruppen entweder händisch zusammenstellen oder zufällig einteilen lassen. Nach Ablauf einer vorgegebenen Zeit werden die Teilnehmer*innen automatisch wieder in den gemeinsamen Seminarraum katapultiert, Trainer*innen können die Zeit verlängern oder die Gruppen auch vorzeitig zurückholen.
Fixe Räume
Da richtet man einfach neben einem gemeinsamen virtuellen Seminarraum weitere virtuelle Gruppenräume ein. Das bietet sich insbesondere für länger dauernde Formate an, z.B. länger dauernde Lehrgänge oder solche, die sich aus mehreren Modulen zusammensetzen. Der große Vorteil ist, dass die Räume den Teilnehmer*innen quasi rund um die Uhr zur Verfügung stehen, sie können sich dort also auch selbständig verabreden und treffen.
In der schon erwähnten Wiener BetriebsrätInnen Akademie haben wir ein „virtuelles Seminarzentrum“ geschaffen: BRAK 2020 war der gemeinsame Seminarraum, Amalie Seidl, Marie Tusch, Anna Boschek und Grete Rehor die fixen Gruppenräume. Der Testraum Trainer*innen stand unseren Trainer*innen zur Verfügung, um sich zu besprechen oder auch Webinar-Abläufe auszuprobieren.
Begleitung und Unterstützung: Gruppen auch im Online-Setting besuchen!
Im Präsenzmodus spaziert man als Trainer*in von Gruppe zu Gruppe und fragt nach, ob alles klar ist oder die Teilnehmer*innen Unterstützung brauchen. Das ist im Online-Modus auch wichtig! Also, wenn es sich nicht grad um eine 5-Minuten-Murmelgruppe handelt, macht es Sinn, als Trainer*in in den virtuellen Gruppenräumen vorbeizuschauen. Da kann man unterstützen und bekommt gleich auch einen Eindruck davon, wie sich die Gruppe tut.
Für Notfälle: Wie kann die Gruppe die Trainer*innen erreichen? Kann man einfach anrufen? Die Kontaktmöglichkeit muss jedenfalls klar sein!
Die vielleicht wichtigste Phase des Seminars: Die Pause
Die Pause ist nicht nur für die persönliche Erholung, sondern auch aus gruppendynamischer Sicht wichtig – deshalb haben wir ihr auch zwei Artikel gewidmet: Einen zur Pause allgemein, einen zur Online-Pause.
Phase 4: Der Abschluss
Der Online-Workshop mit den Kolleg*innen von ver.di war so kurzweilig, dass das Ende schneller kam als gedacht 🙂 Wir haben es grade noch geschafft, uns auch diese Phase noch ein bisschen näher anzuschauen!
Die letzte Phase eines Workshops oder Seminars dient auf inhaltlicher Ebene der Reflexion des Erarbeiteten und der Förderung des Transfers in die Praxis der Teilnehmer*innen. Wir Trainer*innen möchten natürlich Feedback bekommen und mit Fokus auf den Gruppenprozess geht es darum, Abschied zu nehmen und die Vernetzung zu fördern.
Vernetzung fördern: Das Ende ist nicht das Ende…
Genau so, wie man das Kennenlernen VOR den Beginn des Webinars verlagern kann, kann man natürlich auch das Ende nach hinten verschieben. Ideen dazu gibt’s genug!
- Die Viertelstunde danach: Bleibt doch einfach mal nach Abschluss des Seminars noch ein bisschen im virtuellen Raum – zum Plaudern, Scherzen, eben für den informellen Teil!
- Virtuelle Gruppenräume zur Verfügung stellen: Ladet die Teilnehmer*innen ein, den bestehenden virtuellen Raum selbständig zu nutzen und sich da zu treffen. Zum informellen Austausch, zum Reflektieren und bei mehrmoduligen Angeboten auch für Arbeitsgruppen zwischen den Modulen.
- Gemeinsam Erfahrungen sammeln und teilen: Dafür eignet sich z.B. auch ein Padlet gut – ladet die Gruppe ein, dort zu posten, wenn sie Gelerntes und Erarbeitetes erstmals aktiv einsetzen – das motiviert gleichzeitig auch, das tatsächlich zu tun!
- Follow-up-Termin: In vielen unserer Seminare sind die Teilnehmer*innen am Ende so begeistert, dass sie sich einen eintägigen Follow-up-Termin wünschen. Leider kommt der dann meist nicht zustande, weil die Anreise für so einen kurzen Termin dann doch zu weit ist… Im virtuellen Raum spielt das keine Rolle! Insofern lässt sich so ein Termin leicht organisieren – übrigens auch nach einem Präsenz-Seminar!
Abschied nehmen
Das Webinar soll allen in guter Erinnerung bleiben – da macht es Sinn, zum Abschluss nochmal eine positive Stimmung zu erzeugen und die festzuhalten, einfach per Screenshot. Möglichkeiten dafür:
- Jede*r nimmt einen Zettel und malt ein Symbol drauf, das das Seminar beschreibt. Als Trainer*in macht man einen Screenshot, den man den TN dann zukommen lässt.
- Jede*r nimmt sein Smartphone, sucht ein Foto aus, das das Seminar beschreibt und hält es in die Kamera.
- Emoji-Flut in den Chat stellen: Wie war’s mit der Gruppe für dich?
Autorin: Pia Lichtblau
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