Nicht nur zum Brainstormen!
Statt zu referieren, was Teilnehmer*innen ohnehin schon im Kopf haben, fragen wir besser, welche Infos und Ideen zum Thema schon vorhanden sind. Was von den Teilnehmer*innen kommt, schreiben wir einfach am Flipchart mit. Das nennen wir Zurufliste. Es ist eine ganz einfache Methode, die ohne großen Aufwand vielseitig einsetzbar ist. Mit ein paar Tipps klappt das noch besser.
Ein Beispiel
„Aktivierungsmöglichkeiten im Vortrag“ ist gerade das Thema in einem Train-the-Trainer-Kurs. „Wie aktiviert ihr bisher schon?“ Die Frage schreibe ich auf’s Flipchart und warte schweigend. Es dauert ein wenig, aber dann kommen die ersten Zurufe. Ich kommentiere nicht und notiere den Wortlaut oder frage, wie ich das kurz aufschreiben kann. Ich lasse das einige Minuten laufen. Dann frage ich: „Was wollt ihr genauer wissen?“ Es entsteht ein Gespräch, in dem die Kursteilnehmer*innen vor allem voneinander lernen. Danach bringe ich noch Aktivierungsmöglichkeiten, die nicht auf der Zurufliste standen.
Einsatzmöglichkeiten
In diesem Beipiel ist die Zurufliste eine Methode zur schnellen Aktivierung im Lernprozess. Teilnehmer*innen sind nicht nur passiv Zuhörende. Sie bringen ihre Erfahrungen oder ihr Vorwissen zum Thema ein. Das dauert nur ein paar Minuten und ist bei vielen Themen einsetzbar: „Welche Vorteile haben Online-Veranstaltungen?“ „Wie gestalte ich den Start eines Beratungsgesprächs?“ „Wie vermeide ich das Suppenkoma?“ „Welche Faktoren beinflussen den Lernerfolg?“ „Wie gestalten wir das Ende eines Vortrages?“
Mit Zuruflisten kann ich Erwartungen, Fragen und Wünsche am Anfang eines Seminars sammeln und sichtbar machen. Aufgabenfelder abstecken („Unsere Aufgaben als Lerncoach“), Tipps zusammentragen (z.B. für die frisch gewählte Betriebsrät*in). Zuruflisten können Material für Checklisten sein: „Wie bereite ich ein Online-Training vor?“ Ich kann Feedback sichtbar machen (z.B. als zweigeteilte Zurufliste „Beibehalten/Ändern“) und vieles mehr. Zuruflisten eignen sich auch für Lernchecks: „An welche Inhalte aus dem ersten Modul erinnert ihr euch zuerst?“
Zurufliste und Brainstorming: Der große Unterschied
Oft wird beides gleichgesetzt und wir selbst haben im Englischen die Zurufliste in Ermangelung eines passenden englischen Begriffs mit „Listing Brainstorming Ideas“ übersetzt. Dabei gibt es eine klare Unterscheidung: Die Zurufliste ist eine Sammelmethode. Brainstorming ist eine Kreativitätstechnik. Es geht beim Brainstormen darum, für eine definierte Aufgabenstellung in kurzer Zeit möglichst viele Ideen zusammen zu tragen, wobei während des Sammelns jede Kritik und Wertung verboten ist. Die Zurufliste auf dem Flipchart ist eine neben anderen Möglichkeiten, die Ideen im Brainstorming festzuhalten. Das geht auch mit Mind-Maps oder mit Karten.
Zuruflisten als Moderationstool versus Methode für Lehrveranstaltungen
Die methodischen Werkzeugkästen der Workshop-Moderation sind im Prinzip dieselben wie die für Referent*innen. In beiden finden wir die Zurufliste.
In der Moderation dient sie der breiten Sammlung. Das kann eine kreative Fragestellung sein („Wie kann unser Bildungshaus optimale Rahmenbedingungen für das Lernen bieten?“) oder eine Sammlung von Fakten („Wo tut sich ein*e Rollstuhlfahrer*in bei uns im Tagungshaus schwer?“). In der Moderation achte ich darauf, dass wirklich breit gesammelt wird. Da arbeite ich oft mit zwei Flipcharts, lasse Teilnehmer*innen schreiben und konzentriere mich auf die Moderation. Ich breche nicht ab, wenn die Zurufe spärlicher werden, weil nach kurzer Pause oft eine zweite Welle kommt. Da gibt es auch kein richtig und falsch. Was zur Weiterarbeit ausgewählt wird (zum Beispiel mit Klebepunkten oder einer Argumentenrunde), ist Sache der Teilnehmenden. Hier in der Moderation Einfluss zu nehmen wäre ein Fauxpas.
Bei Zuruflisten in Lehrveranstaltungen ist das anders. Ich bin den Lernzielen verpflichtet. Falsches darf nicht unkorrigiert stehen bleiben. Fehlendes wird durch uns Referent*innen ergänzt, Wichtiges hervorgehoben.
Tipps für Zuruflisten im Lernprozess
- Geduld ist gefragt! Oft dauert es eine Weile, bis die ersten Zurufe kommen. Teilnehmende müssen sich erst sortieren und die Antworten überlegen.
- Keine Wertungen und Kommentare: Ich schreibe die Zurufe kommentarlos auf, allenfalls sage ich danke oder frage, wie ich einen langen Zuruf kurz notieren kann.
- Diskussionen während des Sammelns „würge“ ich ab. „Lasst uns erst sammeln und anschließend darüber reden!“ Wenn diskutiert wird, brechen die Zurufe sofort ab.
- Auch Teilnehmer*innen können schreiben. Ich bitte oft jemanden aus dem Teilnehmerkreis, das Schreiben zu übernehmen. Das gibt mir gerade in größeren Gruppen die Möglichkeit, den Überblick zu behalten und den Sammelprozess zu steuern.
- Reicht ein Flipchart-Blatt nicht aus, dann bitte nicht umblättern. Die Zurufe, die auf dem ersten Blatt notiert sind, regen wieder andere an. Also abhängen, abschneiden (mit einer Nadel) und woanders (z.B. Pinnwand) aufhängen.
- Die Listen zum Lernen nutzen! Eine Zurufliste ist mehr als ein Aktivierungstool, auch ohne Weiterarbeit wie im Workshop. Welche drei Punkte sind für euch besonders nützlich? Suche dir einen Punkt aus, den du bisher nicht bedacht hast.
Wann korrigiere ich Fehler?
Als Referent*in muss ich (im Gegensatz zur Moderator*in) Falsches korrigieren und richtig stellen. Den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden, ist auch für mich schwer. Wenn ich falsche Zurufe sofort aussortiere und nicht aufschreibe, muss ich das begründen. Danach kommt dann meistens nur noch wenig. Wenn ich alles aufschreibe und danach korrigiere („Da hat sich ein Fehler eingeschlichen!“), habe ich das Problem, wie ich das Falsche wegbekomme, ohne jemanden zu brüskieren. Mit geeigneten Fragestellungen lässt sich die Situation vermeiden. Bei der Liste im Beispiel oben „Wie aktiviert ihr bisher schon?“ gibt es keine falschen Zurufe.
Geht das auch online?
Das haben wir ausprobiert! Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Jede Plattform – von BigBlueButton bis Zoom – hat ein integriertes Whiteboard, auf dem zumindest die Referent*in schreiben kann. So ganz flexibel wie echte Flipcharts sind diese Whiteboards allerdings nicht. Mit Zusatzprogrammen wie Miro geht das schon einfacher und das Ergebnis schaut auch besser aus.
In allen Plattformen gibt es die Funktion „Bildschirm teilen“. Damit lässt sich eine Zurufliste in Word oder PowerPoint live erstellen. Meine Lieblingsversion der Zurufliste online ist handgeschrieben. Ich lege ein Blatt Papier unter die Dokumentenkamera neben dem Laptop und schreibe „händisch“ mit, was die Teilnehmer*innen mir zurufen.
Weitere Infos zur Zurufliste
- Hier im Blog gab es schon einmal einen kurzen Beitrag über die Zurufliste und eine Übersicht über Sammelmethoden.
- Tipps zum Arbeiten mit Zuruflisten in Workshops finden sich in:
Ulrich Lipp & Hermann Will (8.Aufl 2008): Das große Workshop-Buch. Weinheim/Basel:Beltz Seite 88 – 93 - Infos zur Methode Brainstorming gibt es im Netz zahlreich, zum Beispiel hier.
- Zuruflisten auf dem Flipchart sind Grundlage der Methoden „Paradoxe Fragen“ und „ABC-Listen“, zu denen eigene Blog-Beiträge erscheinen.
Autor: Ulli Lipp
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