#thedi: Gegenmacht „bilden“ – Teil 5

Pierre Bourdieu – Ohne Kapital keine Macht oder
Bewegung im „sozialen Raum“ durch gewerkschaftliche Bildung

Pierre Bourdieu (CC: REFAK)

„Ob wir breitbeinig, aufrecht, erhobenen Hauptes … sitzen oder gehen, oder eher gesenkten Blicks, geduckt, zusammengesunken … verrät auch vieles über unsere Positionierung im sozialen Raum, die durch die Verteilung ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals bestimmt wird.“

Zitat von Rosa, 2017, 128

Wohin auch das gewerkschaftliche Auge sieht … unerträgliche Ungleichheit und ungerechte Machtverhältnisse. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu stellt die Frage der sozialen Ungleichheit in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie. Es geht um ungleiche Verteilung von Macht. Macht definiert er dabei als „Verfügungsmöglichkeit über Ressourcen zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse und Interessen“ (Koller, 2012, 139).

Für Bourdieu haben der in den Leib eingeschriebene „Habitus“ und die „Kapitalien“, über die eine Person verfügt, sehr stark mit der Sozialisation, mit den Möglichkeiten der Herkunftsfamilie – deren Positionierung im „sozialen Raum“ – zu tun. Habitus und Kapitalien wirken „einschränkend“ auf unsere Möglichkeiten, eine andere Position im „sozialen Raum“ einzunehmen. Arbeit und Bildung bieten am ehesten noch die größten Chancen, um nicht schicksalhaft in einer bestimmten, womöglich unterprivilegierten, gesellschaftlichen Position festzusitzen, etwa durch formelle Weiterbildungen und Abschlüsse.

Im Rahmen dieses Blogs soll der Blick speziell auf die Rolle der gewerkschaftlichen Bildung gerichtet werden, wenn es darum geht, gegenmachtsfähig zu werden, Kapitalien von Teilnehmenden zu stärken, ihren Habitus in Richtung „Macht-Bewusstsein“ zu stimulieren und damit die „soziale Energie“ (Bourdieu, 1992) für die gewerkschaftlichen Kämpfe im „sozialen Raum“ zu steigern.

Bourdieus Begrifflichkeiten im Schnelldurchgang

> Kapital

Bourdieu unterscheidet vier Kapitalsorten, über die eine Person verfügt und die ihre Position im sozialen Raum beeinflussen: das ökonomische, das soziale, das kulturelle und das symbolische Kapital (vgl. im Folgenden Bourdieu, 1983, 183 ff).

  1. Ökonomisches Kapital: Jene ökonomischen Erträge unserer Arbeit, die wir nicht gleich wieder verkonsumieren, sondern in Form von Geld ansparen oder in „Eigentum“ investieren, das wiederum in Geld konvertierbar bleibt. Diese Form des Kapitals kann freilich auch einfach ererbt sein und damit ohne Eigenbeitrag die Position im sozialen Raum beeinflussen (beispielsweise Donald Trump hat sich wie viele andere auch – wider eigene Behauptung – nicht alles selber erarbeitet).
  2. Soziales Kapital: Wir verfügen über ein unterschiedlich ausgeprägtes, dauerhaftes persönliches Netzwerk, „institutionalisierte Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens“. Soziales Kapital lebt also von der Ressource, die sich aus der „Zugehörigkeit zu einer Gruppe“ ableitet. (Vgl. Bourdieu, 1992, 63; Koller, 2012, 145). In unseren Ausbildungen öffnen wir für unsere Teilnehmenden ein breites Feld sozialer Beziehungen zueinander und in die Organisationen der Arbeitnehmer*innenbewegung hinein.
  3. Kulturelles Kapital: Es hat laut Bourdieu drei Erscheinungsweisen:
    Inkorporiertes Kulturkapital – es ist quasi einverleibt, Teil unseres Körpers und es ist unbewusst einfach vorhanden, in der Art wie wir sprechen, welche Eigenschaften, Kenntnisse und Fähigkeiten uns im Rahmen unserer Sozialisation „mitgegeben“ wurden bzw. welche wir aktiv selbst erworben haben.
    Objektiviertes Kulturkapital – damit gemeint sind kulturelle Gegenstände wie zum Beispiel die Bücherpakete, die unsere Betriebsrät*innen aus unseren Lehrgängen mitnehmen und im Betriebsratsbüro stehen haben. Schön zu sehen ist dieses Kapital bei vielen Experten*innen-Interviews vor prallgefüllten Bücherregalen.
    Institutionalisiertes Kulturkapital – bei vielen Abschlussveranstaltung unserer Lehrgänge erhalten unsere Absolvierenden Zertifikate. Solche dauerhafte institutionellen Anerkennungen von Fähigkeiten und Fertigkeiten sind der „Stoff“, aus dem diese Kapitalsorte besteht. Autodidakt*innen, die vielleicht gleich viel in einem Feld können, haben hier das Nachsehen. Eben weil wir in einer Gesellschaft leben, in der nur Abschlüsse verwertbar sind.
  4. Symbolisches Kapital: Bourdieu unterscheidet diese vierte Kapitalsorte, um zu unterstreichen, dass es eine eigene Qualität hat, wenn bestimmte andere Formen von Kapital eine besondere gesellschaftliche Anerkennung erfahren, etwa Bildungstitel.

>> Habitus

Der Mensch ist für Bourdieu ein gesellschaftlich geprägtes Wesen. Im Laufe unseres Lebens speichert unser „Körper“ individuelle und kollektive Erfahrungen, diese prägen unsere Anlagen, Haltungen, unser Erscheinungsbild, die Gewohnheiten und Lebensweisen. Dieser „Habitus“ prägt unsere Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (vgl. Schwingel, 1995, 54ff). Er wirkt wie ein unbewusstes Bild von uns selbst, unserer gesellschaftlichen Position und den Handlungsmöglichkeiten, die wir wahrnehmen.

Auch wenn sich soziale Position und Auftreten ändern, der klassenspezifische Habitus ist hartnäckig (CC: Philip Taucher)

>>> Sozialer Raum

Der Umfang, in dem wir über die oben beschriebenen Kapitalsorten verfügen, ihre Struktur und Gewichtung sowie unsere soziale Laufbahn weisen uns einen Platz im „sozialen Raum“ unserer Gesellschaft zu. Je geringer unsere Kapitalausstattung, desto ungünstiger ist unsere Position im sozialen Raum im Bezug auf Andere. „Sogenannte prekarisierte Unterschichten, die über geringes soziales, ökonomisches und kulturelles Kapital verfügen, haben immer weniger Chancen, sozial aufzusteigen, während umgekehrt die privilegierten Schichten de facto nur selten abstiegsbedroht sind.“ (Rosa, 2017, 687)

Gewerkschaftliche Bildung soll die Ordnung stören und irritieren.

Es geht in der gewerkschaftlichen Bildung um Aufbau von Gegenmacht. Dafür reicht es nicht, nur funktionales, vorzugsweise rechtliches Wissen zu trichtern, sondern gewerkschaftliche Bildung ist die umfassende Aufgabe, die „Kapitalien“ der Adressat*innen systematisch zu stärken und den gemeinschaftlichen Habitus entlang aktueller Herausforderungen zu irritieren.

Bildung bietet die Möglichkeit, sich seinen Habitus bewusst zu machen und zu analysieren, wo er der Durchsetzungsfähigkeit im Weg steht. Denn wir haben es mit Betriebsrät*innen zu tun, die sich in einem „sozialen Raum“ bewegen, der über Jahrzehnte die Regeln sozialpartnerschaftlichen Handelns reproduziert hat. Daraus ist auch ein entsprechender „Habitus“ entstanden. Es klingt als wäre es vor über zehn Jahren schon für das aktuelle Gegenmacht-Strategieprojekt geschrieben worden, was in den „Betriebsratsrealitäten“ nachzulesen ist: „… wie geht man damit um, wenn die kollektive Praxis plötzlich an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit stößt? Wenn der angeeignete Habitus eine Praxis reproduziert, die ihre Wirkmächtigkeit nach und nach einbüßt?“ (Becksteiner u.a., 2010, 75f)

Wenn „Gegenmacht“ in den Fokus der gewerkschaftlichen Bildung treten soll, dann müssen wir im Sinne Holzkamps eine „offensive Strategie des expansiven Lernens“ (vgl. Becksteiner u.a., 2010 73ff) verfolgen, heißt: Wir müssen die alleinige Fixierung auf klassische Handlungsmuster „verlernen“ lehren, indem wir mit unseren Zielgruppen neue Problemlösungsmöglichkeiten erarbeiten, üben und erlebbar machen, die auf andere Machtressourcen als die der „Sozialpartnerschaft“, also eine institutionelle Machtressource, setzen. Stichworte hierzu sind Organizing, Kampagnenstrategien, eine Mitglieder- und Bewegungsorientierung.      

Wenn das Interessen-Gegenüber im Feld nichts mehr mit Sozialpartnerschaft am Hut hat, dann müssen wir den Habitus der konzilianten sozialpartnerschaftlichen Verhandler*innen oder gar den Habitus der wohlmeinenden Bittsteller*innen für die Interessen der Kolleg*innen verlernen und zwar zu Gunsten des Habitus dessen, der machtbewusst für erkämpfte und verbriefte Rechte einsteht. Gewerkschaftliche Bildung ist Stärkung in einem machtbewussten Habitus, beispielsweise damit: Wenn wir im Seminar oder der Klausurbegleitung bewusst machtstärkende soziale Netzwerke im Betrieb erarbeiten; die ganz konkreten Quellen für potenzielle Durchsetzungsmacht im jeweiligen Betrieb analysieren; Strategien für kleine aktivierende und beteiligungsfördernde Themenkämpfe entwerfen; Verhandlungsstrategien und professionelle Körpersprache trainieren etc. 

 Gewerkschaftliche Bildung als Motor sozialer Mobilität

Abgesehen vom Gegenmachtsfokus hat gewerkschaftliche Bildung vor dem theoretischen Hintergrund Bourdieus noch eine andere wichtige Funktion: den Umfang mit dem wir über die oben beschrieben Kapitalien verfügen, zu steigern und dadurch die soziale Mobilität im bestehenden System zu erhöhen. Speziell bei den Langzeitausbildungen – wie unseren Betriebsratsakademien, der Sozialakademie, den Gewerkschaftsschulen und dem Projektstudium. Die Absolvent*innen verlassen sie mit gestärkten „Kapital“-Ressourcen (wie Wissen, persönlichen sozialen Netzwerken, kulturellen Interessen, Zertifikaten etc.) und anderem Auftreten, ja teils – nach deren eigenem Empfinden – weiterentwickelter Persönlichkeit. Ihr Habitus hat sich weiterentwickelt. Beiträge dazu sind und können sein:

  • Wertschätzende Formen des Abschlusses und symbolstarke Nachweise und Zertifikate;
  •  die Einordnung unserer Angebote im Nationalen und Europäischen Qualifizierungsrahmen;
  • Rahmenprogramme, um die kulturellen Erfahrungshorizonte unserer Adressat*innen zu erweitern;
  • Kontaktmöglichkeiten mit Expert*innen und wichtigen Funktionsträger*innen;
  • die Auseinandersetzung mit anspruchsvollen Texten und die Herausforderung, eigene Texte verfassen zu müssen, um die eigene Ausdrucksfähigkeit zu stärken;
  • ganz generell – die Sensibilisierung für diese Kapitalien und deren Bedeutung für soziale Anerkennung und damit symbolisches Kapital – außerdem für „soziale Energie“ in Hinblick auf die Kämpfe und Auseinandersetzungen im sozialen Raum. 

Zum Weiterlesen

  • Becksteiner, Mario/ Steinklammer, Elisabeth/ Reiter, Florian (2010): BETRIEBSRATSREALITÄTEN – Betriebliche Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaft und BetriebsrätInnen im Kontext der Globalisierung, Wien 2010; speziell die Seiten: 63ff; die Studie zusammenfassend siehe auch hier.
  • Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1987
  • Bourdieu, Pierre: Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, in: ders. Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992, 49-75; siehe auch hier.
  • Koller, Hans-Christoph: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung, Stuttgart, 2012, speziell 138-156
  • Nestvogel, Renate: Pierre Bourdieu. Die verborgenen Mechanismen der Macht, hier zum Nachlesen.
  • Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2017; im Sinne einer kritischen Rezeption und Weiterentwicklung der bourdieuschen Konzeptionen der Kapitalformen und des Habitus.
  • Schwingel, Markus: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995

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Zum Weiterschauen

  • Erklärvideo zu „Habitus“ findest du hier.
  • Erklärvideo zu „Kapitalformen“ findest du hier.

Autor: Gerhard Gstöttner-Hofer

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