Solidaritäts-Seminar online – geht das?

Das REFAK Seminar „Solidarität lernen, lehren, erleben“ konnte im Mai 2021 nicht in Präsenz stattfinden. Helmut Ruß und Ulli Lipp als Referenten standen vor der Aufgabe, diese Veranstaltung, die von heißen Diskussionen, vom „Zusammenstecken der Köpfe“ und von Teamaktivitäten lebt, mit Teilnehmer*innen durchzuführen, die allein vor ihrem Bildschirm sitzen und Kolleg*innen und Trainer meist nur briefmarkengroß vor sich haben. Würde das funktionieren?

Wir waren skeptisch, am Ende aber doch zufrieden. Beim Erleben von Solidarität im praktischen Tun, bei Teamübungen und Diskussionen setzte das Online-Format Grenzen. Und doch entstand über die drei Tage ein Gemeinschaftsgefühl, vor allem durch intensive Arbeit in Kleingruppen und eine Reduzierung von Vortragsanteilen. Unsere differenzierte Antwort lest ihr am Ende dieses Beitrags.

Solidarität durch vier Brillen

Aus diesen vier unterschiedlichen Perspektiven bearbeiteten wir Solidarität.

Solidarität durch die begrifflich historische Brille

In den vergangenen Solidaritätsseminaren gab es regelmäßig heftige Diskussionen um den Begriff Solidarität, gerade um Solidarität aus Gewerkschaftssicht. Dieses Mal war es ein wenig anders: Alle definierten und notierten Solidarität für sich. Es entstanden viele unterschiedliche Definitionen mit einer großen Schnittmenge. Hier ein Auszug aus den „bunten“ Begriffsbestimmungen:

Der Begriff Solidarität von Teilnehmer*innen visuell präsentiert

Was ist für mich Solidarität?

  • Gemeinsam mehr für alle erreichen, ein erstrebenswerter Wert, Schlüssel zu einem besseren Leben…
  • Zusammenhalt von Menschen mit selber Weltanschauung & Ziele für ein Miteinander & Gerechtigkeit
  • Nicht gegeneinander, sondern miteinander – für ein gutes Leben für alle
  • Es kann einem nur dann gut gehen, wenn es rundherum den Leuten auch gut geht.

Hier der Link zu weiteren Definitionen und Anmerkungen zum Begriff

Aus der Präsentation von Helmut Ruß über die Entstehung des Begriffes Solidarität. Die vollständige Präsentation gibt es hier.

… durch die aktuell-politische Brille

Natürlich war auch im Seminar Solidarität in Zeiten der Pandemie ein Thema. Betriebsratsarbeit und gewerkschaftliche Bildungsarbeit haben sich sehr stark verändert. Wir schauten aber aus dem aktuell-politischen Blickwinkel auf zwei andere Themenkomplexe.

Helmut Ruß gab als zuständiger Gewerkschaftssekretär Einblick in die Auseinandersetzung um MAN in Steyr, hinsichtlich der drohenden Werksschließung. Solidarität hat sich dort in sehr vielfältiger Art und Weise gezeigt. Die Betriebsrät*innen berichteten und berichten über Hunderte von Grußadressen aus dem In- und Ausland. Verschiedene Gewerkschaften, andere Betriebsratskörperschaften, kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen nehmen hier echten Anteil am immer noch ungewissen Schicksal von über 2.300 Beschäftigten. Schließung oder Weiterführung? Teilverlagerung oder endgültiges Aus? Unbestritten ist auch, dass gerade in einer solchen Ausnahmesituation, in der es direkt und indirekt um Tausende von Existenzen geht, sich auch immer wieder Bruchlinien durch das Solidaritätsgefüge ziehen. Arbeiter*innen gegen Angestellte, ältere gegen jüngere Beschäftigte, Außenstehende gegen seit Jahren, oft Jahrzehnten im Werk Beschäftigte. Nicht vergessen werden darf, dass insbesondere die Medien eine nicht immer transparente Rolle spielen und mittlerweile auch in Teilen der Bevölkerung eine Gemengelage aus Unwissenheit, Bildungsresistenz und purem Neid Platz gegriffen hat. Hier ist solidarisches Handeln mehr denn je gefordert und oft schwieriger als man meint, dass es ist.

Helmuts Präsentation Solidarität im Fall MAN

Wer gegen wen im ÖGB? Dieser zweite Themenkomplex ist eigentlich ein Dauerbrenner. Helmut Ruß zeigte unter dem Stichwort „Solidaritätsverstümmelung“ Gegensätze innerhalb der Gewerkschaften auf, die solidarisches Handeln erschweren. Die Teilnehmer*innen nahmen das auf und erarbeiteten eine Vielzahl von weiteren Gegensätzen.

… durch die persönliche Brille

Die persönliche, individuelle Sicht auf Solidarität spielte in den drei Tagen eine wichtige Rolle. Das mag am Online-Modus liegen und den oft eingesetzten Einzelarbeiten.

Schon in den Antworten auf das Vorab-Mail setzten sich die Kolleg*innen mit Solidarität sehr differenziert auseinander. (Beispiel: Für mich ist Solidarität ganz spontan ein Wert, eine Haltung, die das Gemeinsame vor das Individuelle stellt. Empathisch zu bleiben, zu werden. Im Gemeinsamen einen Mehrwert erkennen. Sich dafür einsetzen, dass jene, die alleine nicht weiterkommen, nicht auf der Strecke bleiben. Nicht Geiz ist geil, sondern Solidarität! Wenn man es sarkastisch sieht, könnte man sagen: „Ich bin dann solidarisch, wenn ich persönlich was davon habe…“.)
Das Beutebuch (im Vorfeld als PDF zum Ausdrucken verschickt) war auch dazu gedacht, Ergebnisse, Erkenntnisse und Vorhaben für sich selbst festzuhalten.

In das Beutebuch kam auch die persönliche Umsetzungsplanung. Wir haben vereinbart, in einem Blogbeitrag im November 2021 zu berichten, welche Ideen aus den drei Tagen in der Arbeit realisiert wurden und wie es uns dabei ergangen ist.


Solidarität durch die Schulungs-Brille

Lerninhalte und Solidarität
Jede/Jeder formulierte, wie eine Verlinkung zwischen den jeweiligen Lerninhalten und Solidarität möglich ist. Die Frage war auch, ob das beim Lernen erkennbar wird und ob und wie man zulegen kann. Auszüge aus den Notizen:

  • Wo können wir zulegen? Eine Vielzahl an Best Practice Beispielen recherchieren, davon erzählen, Solidarität einfordern!
  • Ich betreue ja die Projektgruppen – Einführungsabende (2 Stück) inkl. Dann noch die komplette Projektphase 10 Abende und die Präsentation. Alle Projekte stehen im gewerkschaftlichen Kontext – und somit auch in Zusammenhang mit Solidarität.
  • durch Geschichten, Beispiele, Diskussionen unterschiedliche Zugänge aufzeigen; kritisches Hinterfragen; Machtkampf sichtbar, erlebbar machen; Verbesserungen durchsetzen;
  • Ich verwende in meinem Seminar gerne die Methode des Storytellings…Am Beispiel „Gegenmacht“ versuche ich Solidarität zu erzeugen. Das Bewusstwerden von historischen Tatsachen hilft, glaube ich, bei diesem Thema ungemein…und schafft Solidarität bei den hoffentlich dann emotionalisierten TN. Eine Story gibt es hier als Video.
  • Sowohl in der internen als auch der BR*innen-Weiterbildung sollte Solidarität immer präsent sein. Ich versuche, die Teilnehmer*innen dazu zu ermutigen, untereinander solidarisch zu sein, sich zu vernetzen, füreinander da zu sein, damit ihre tägliche Arbeit in ihren Funktionen und unterschiedlichen Rollen durch das Gemeinsame besser gestaltet werden kann.

Fallarbeit

Wir sammelten Fälle unsolidarischen Verhaltens von Lernenden und Lehrenden in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und erarbeiteten in Kleingruppen Handlungsmöglichkeiten in der konkreten Situation und zudem Vorbeugestrategien.

Methoden für Solidarität?

Methoden sind Werkzeug. Storytelling, um jetzt ein Beispiel herauszugreifen, wird in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit erfolgreich eingesetzt, aber auch von Leuten aus dem rechten Lager, um Fake-News, Verschwörungstheorien und Rassismus zu verbreiten. Bei anderen Methoden lässt sich das ganz ähnlich zeigen. Es kommt also darauf an, wie Methoden angewandt werden und mit welcher Zielsetzung.

Im Seminar arbeiteten Gruppen an der Frage, welche Methoden und Lernstrategien sich wie eingesetzt für solidarisches Lernen eignen.

Aus den Arbeitsergebnissen: Methoden und Lernstrategien für Solidarität

Natürlich gehört das wieder dazu: Vorwärts und nicht vergessen …

Das Solidaritätslied von Brecht und Weil in verschiedenen Versionen ist von Anfang an Teil des Seminars. Diesmal kamen zwei Versionen von ÖGB-Kolleg*innen mit ihren Bands dazu. In einer Aufnahme ist Iris Stern zu hören. Sie schaltete sich im Seminar kurz dazu und erzählte, wie es zu der Aufnahme kam. Julius Mayer, selbst Teilnehmer am Seminar, nahm ganz spontan nach dem zweiten Tag eine eigene Version auf und stellte diese Rohfassung zur Verfügung. Das war am letzten Tag unser „Rausschmeißer“.

Rechts die Version mit Iris und Geschichten im Ernst und links Julius und Tritiko

Solidarität beim Online-Lernen? – Ein Resümee

„Solidaritäts-Seminar online – geht das?“ war unsere Frage im Titel. Wir beide waren skeptisch. Das braucht euch nicht zu wundern. Wir beide stehen seit vielen Jahren vor Zuhörer*innen und Teilnehmer*innen, arbeiten und diskutieren mit ihnen. Plötzlich sind wir allein und auch voneinander isoliert vor unseren Laptops in Oberösterreich und Bayern. Dennoch waren wir beide am Ende ganz happy. Wir stellten zum Schluss die Frage: Haben Helmut und Ulli es geschafft, dass ihr Solidarität auch online erleben konntet? Eine Antwort aus einer Feedbackgruppe: „Die Solidarität konnte besonders in den kleinen Gruppenarbeiten gelebt werden“. Eine andere Stimme: „Solidarität ist auch online spürbar. Es ist zwar nicht dasselbe wie in Präsenz, aber wir haben das Maximum heraus geholt.“ Das „WIR“ schließt die Gruppe mit ein. Von Anfang an wurde deutlich: Wir gemeinsam nehmen uns das Thema Solidarität vor, gestalten auch gemeinsam den Lernprozess. Die Teilnehmer*innen verfielen mit dem Einloggen in die Videokonferenz nicht in die passive Haltung: Mal schauen, was mir geboten wird und nebenher kann ich ja meine Mails checken.

Teamübung im Präsenzmodus aus einem Solidaritätsseminar vor der Pandemie und aus dem aktuellen Seminar. Nicht nur optisch ein Unterschied.

Neben dieser grundsätzlichen Einstellung der Teilnehmer*innen begünstigten folgende Faktoren das Gelingen:

  • Reduzierung der technischen Probleme auf ein Minimum, gewährleistet durch den von der REFAK zur Verfügung gestellten technischen Support (in Person von Ferdinand Dolecek), der immer und sichtbar dabei war und sofort einspringen konnte.
  • Viele Gruppenarbeiten. Das Online-Format lädt zu Vorträgen und Präsentationen ein, das gemeinsame Arbeiten ist nicht ganz so einfach wie in Präsenz. Wir widersetzten uns und machten sehr viele Gruppenarbeiten in Breakout-Räumen, manchmal ganz kurze, oft auch längere in immer wieder wechselnden Konstellationen. Die Gruppen beendeten das Arbeiten, nicht der Timer im System. Die Online-Diskussionen zu dritt stellten sich als viel effektiver heraus als die im Plenum, auch wenn wir nur 12 Leute waren.
  • Wissen teilen. Stefan Vater schrieb in der #thedi Blogreihe: „Wissen wird mehr, wenn man es teilt! ….Das Wissen… liegt nicht bei einer einzelnen Person, mag sie auch über noch so viel Expertise verfügen. Es entsteht in der gemeinsamen Diskussion und Analyse von den Situationen des Arbeits- und Alltagslebens, die wir verändern wollen und müssen.“ Zu dem Beitrag geht’s hier. Das Teilen von Wissen nahm in diesen drei Tagen mindestens ebenso viel Raum ein, wie das Vermitteln von Wissen.
  • Einzelarbeit nutzen. Einzelarbeit spielt im Präsenzunterreicht eine untergeordnete Rolle. Da nutzten wir die Chance, uns möglichst oft mit anderen auszutauschen, wenn man schon beieinander sitzt. Im Online-Modus sitzt jede/r allein vor dem Laptop. Wir haben öfter Einzelarbeit und dann auch weg vom Laptop eingebaut. Beispiele: Den Zusammenhang der eigenen Inhalte mit Solidarität herausarbeiten, immer wieder Notizen ins Beutebuch, individuelle Transferplanung. Wenn die Ergebnisse von konzentrierter Einzelarbeit konsequent mit anderen geteilt werden, kann auch Einzelarbeit sinnvoller Teil eines gemeinsamen, solidarischen Lernens werden.
  • Bildschirmzeiten kurz halten. Wir hörten um 16.00 Uhr auf, mittags gab es zwei Stunden Unterbrechung (teilweise gefüllt mit Einzelarbeit). Häufige kurze Pausen! Für uns als Referenten bedeutet das allerdings Verzicht auf Inhalte. Die Teilnehmer*innen begrüßten diese Rahmenbedingung, weil Lernen am Bildschirm anstrengend ist. Uns fiel auf: Ein Suppen-Koma, der Energieabfall am frühen Nachmittag, war nicht erkennbar.
Eine von vielen Pausen fängt an!

„Dank des Online-Modus konnten wir auch teilnehmen!“ Solche Statements hörten wir von einigen Frauen. Drei Tage am Stück nach Wien kommen, das hätten sie nicht organisieren können. So aber ging es!

Zum Weiterlesen

Autoren: Helmut Russ und Ulli Lipp

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