Lernen auf den Kopf gestellt
„Wie langweilen wir Teilnehmer*innen im Seminar?“ wirkt als Fragestellung für eine Zurufliste in einem Seminar für Referent*innen auf den ersten Blick sehr schräg. Beim Arbeiten mit „auf den Kopf gestellten Fragen“ zeigt sich: Das paradoxe Vorgehen macht oft Spaß und bringt Energie in eine Lerngruppe. Durch eine andere Sichtweise wird der Blick geschärft. Mehr noch: Durch das „Umdrehen“ einzelner Zurufe ins Positive entstehen neue Ideen.
Wie funktioniert das?
Rein technisch ist das ganz einfach: Das ist eine normale Zurufliste auf dem Flipchart. Als Referent*in achte ich darauf, dass ich viele Zurufe bekomme und die auch wirklich negativ notiert werden: „Wie sorge ich für eine schlechte Atmosphäre im Seminar?“ Da kommen dann Vorschläge wie „Konsequent Blickkontakt vermeiden!“ oder „Ich scheiße die Leute zusammen!“ „Ich lache den Erstbesten aus!“ „Ich ignoriere Teilnehmer*innen beim Ankommen konsequent.“ Wichtig ist, dass hier nur gesammelt und nicht kommentiert oder diskutiert wird. Zum Weiterarbeiten nummeriere ich die Zurufe meistens.
Wie lernen wir dabei? Einen ersten Lerneffekt gibt es schon während des Sammelns. Den beobachte ich selbst bei mir. Da kommt die Idee mit dem Ignorieren der Ankommenden und ich habe ein stilles Aha-Erlebnis. „Wie oft bastle ich noch an der Technik herum, die schon wieder nicht funktioniert und kümmere mich zu wenig um meine Teilnehmer*innen?“
Den Effekt kann ich im Seminar intensivieren. „Gibt es Punkte in der Liste, wo du dich selbst wieder erkennst? Notiere dir das nur für dich selbst, aber nur ein oder zwei Punkte!“
Auch eine Gruppenarbeit kann ich anschließen:
Schritt 1: Ich lasse Unterthemen auswählen, bei denen es sich lohnt, weiter zu arbeiten. Das geht am einfachsten mit Klebepunkten. Jede*r Teilnehmer*in sucht sich drei Zurufe aus, die ihr oder ihm wichtig sind. Die Auswahl mache ich noch im Sitzen. Jeder schreibt die Nummer des gewählten Themas auf den Klebepunkt und bringt ihn erst danach am Plakat an.
Schritt 2: Wir arbeiten nur an den hoch gepunkteten Zurufen. Auftrag in den Gruppen: „Dreht den negativen Vorschlag ins Positive! Erarbeitet Szenarien, wie das konkret in euren Veranstaltungen aussieht!“
Schritt 3: Vorstellung im Plenum
Wie bringe ich die Teilnehmer*innen zum Mitmachen?
Die Fragestellung, wie wir absichtlich und zielgerichtet für eine schlechte Atmosphäre sorgen, wird mit Sicherheit Teilnehmer*innen im Raum verstören. Ich baue vor und erzähle von einem meiner Lieblingsbücher. Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein„. Da wird beschrieben, welche schier unendlichen Chancen der normale Alltag bietet, griesgrämig, enttäuscht und unglücklich zu werden. Ich erkenne mich manchmal wieder und sehe Änderungsmöglichkeiten. Dann bitte ich meine Teilnehmer*innen, sich einfach auf dieses paradoxe Vorgehen einzulassen und habe damit noch nie eine Abfuhr bekommen.
Watzlawicks Buch ist auch der Grund, warum meine paradoxen Fragen meistens keine echten Fragen sind. Da steht dann als Überschrift auf dem Flipchart: „Anleitung zum schnellen Vergessen“ oder „Anleitung zum Fadisieren“ oder „Anleitung zum Unglücklichsein mit Gruppenarbeiten“.
Anleitung zum Scheitern mit paradoxen Fragen
- Dem Einsatz einen fundierten Theorieblock über paradoxe Strategien in Therapie und Beratung voranstellen.
- Unbedingt sofort unterdrücken: Die oft aufkommende diabolische Freude am Negativen und am Zerstören (Es soll sogar Gruppen geben, die beim paradoxen Vorgehen lachen.)
- Jeden Einfall besonders bei langen Listen ins Positive wenden und bearbeiten.
- Inflationär einsetzen! Am besten jeden Halbtag einmal und möglichst bei allen Themen!
Paradox auch online?
Zuruflisten funktionieren auch online. Geschrieben wird mit Word („Bildschirm teilen“) oder per Hand auf Papier unter der Dokumentenkamera.
Paradoxe Strategien: Zwei Erfahrungen
Eine Naturschutzorganisation leidet unter Mitgliederschwund. Besonders die Aktiven werden immer weniger. Um das Problem anzugehen gibt es einen Workshop. Die Führung lässt sich auf eine paradoxe Session ein: „So vertreiben wir unsere letzten Aktivisten!“ Da kommt eine Menge zusammen. Jemand aus dem Teilnehmer*innenkreis meldet sich zu Wort: „Leute, das meiste von dem, was da steht, das machen wir!“ Zustimmung im Kreis und nach einer schnellen Auswahl von Punkten, die schnell und mit hohen Erfolgsaussichten zu ändern sind, geht es an die Arbeit: Wir machen es anders!
Eintägige Teamentwicklung einer Gruppe von Jurist*innen, die gut zusammenarbeiten (auch dank regelmäßiger Teamentwicklungstage). Die Gruppe will abseits der gewohnten juristischen Themen kooperieren. Der Wunsch: „Wir wollen einen Film über uns drehen.“ Die Gruppe ist groß. Es gibt zwei Filme: Arbeitstitel 1: „So steigern wir unsere Motivation im Team“ und Film 2: „So zerstören wir die Motivation in unserem Team!“ Team 1 hat einen guten Film gemacht. Team 2 hat sich schier überschlagen. Mit einer Riesenfreude am Destruktiven entstand ein Film voller böser Ideen für das eigene Team. Der Nutzen: In der Aufarbeitung zeigte sich, dass hinter einigen ganz bösartigen Szenen (Der Neue wird mit Arbeit brutal zugeschüttet) reale Erfahrungen stecken: Die Arbeit im Team ist ungleich verteilt.
Ergänzungen und Lesestoff
- Watzlawick, Paul (1983): Anleitung zum Unglücklichsein. Piper, München
- Der Kabarettist Bernhard Ludwig hat nach dem Muster schon vor seinem Bühnendurchbruch die „Anleitung zum Herzinfarkt. (1988 im Heyne-Verlag, München) und die „Anleitung zum Dickwerden“ (1990 auch Heyne-Verlag) geschrieben.
- Über paradoxe Fragen und paradoxe Strategien gibt es viel Infos im Netz, zum Beispiel ein Überblick über systemische Fragen, zu denen die paradoxen Fragen zählen.
- Die „Anleitung zum Unglücklichsein mit Gruppenarbeiten – Zehn Spezialtipps“ findet sich in: Lipp, Ulrich (2008): 100 Tipps für Training und Seminar. Beltz-Verlag, Weinheim, Seite 115/116 oder hier als PDF.
Autor: Ulli Lipp
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