Die Wiederentdeckung des Lernens alleine
Einzelarbeit im vollen Seminarraum, mit Kolleg*innen gleich daneben und der Chance zum direkten Austausch und zur Kooperation? Das scheint nicht zu passen. Die COVID 19-Pandemie zwang und zwingt uns zur Distanz und zum Lernen alleine vor dem Rechner sitzend. Da war und ist vermehrte Einzelarbeit unumgänglich und wir entdecken die Vorzüge des Arbeitens und Lernens nur für sich.
Was ist Einzelarbeit?
Lernende gehen definierte Lernschritte im Rahmen von Trainings, Seminaren, Schulungen und Webinaren alleine. Dazu bekommen sie ein Zeitfenster und eine genaue Aufgabenstellung. Während der Einzelarbeit gibt es keinen Kontakt zu anderen Lernenden. Die Trainer*innen unterstützen nur, wenn ein*e Teilnehmer*in das extra einfordert.
Was wir mit Einzelarbeit erreichen können
Einzelarbeit ist dann angesagt, wenn Lernende ungestört und unbeeinflusst von anderen Inhalte aufnehmen und möglicherweise auch bewerten. Jede*r bringt seine/ihre individuelle Lerngeschichte und einen eigenen Erfahrungshorizont mit und wird Neues anders wahrnehmen, bewerten und aufnehmen. Dazu braucht es Zeit. Oft läuft die Umsetzung des Gelernten, der Praxistransfer nach dem Seminar, unabhängig von der Lerngruppe und individuell ab. Deshalb ist auch bei der Vorbereitung dieses Praxistransfers Einzelarbeit hilfreich.
Das tun Teilnehmer*innen in Einzelarbeit:
- Notizen machen
- Lerninhalte verankern
- Nachdenken
- Verknüpfung mit vorhandenem Wissen
- Lesen
- eigene Umsetzungsmöglichkeiten überlegen
- Vorhaben planen
- Gelerntes setzen lassen
- eigene Erfahrungen zum Lerninhalt suchen
- Lerninhalte bewerten
- eigene Raktionsmuster und/oder Ängste reflektieren
Drei Beispiele für den Einsatz von Einzelarbeit
Eigene Aktivierungsinseln planen
Ein ganzer Tag ist den Aktivierungsmöglichkeiten in der Schulung gewidmet. Wir probieren zehn Tools auch praktisch aus. Am Ende soll sich jede*r einzelne Teilnehmer*in alleine hinsetzen und eine neue Aktivierungsinsel für die nächste Schulung, das nächste Seminar konkret planen. Eine reicht, wenn noch Zeit ist, vielleicht noch eine zweite. Dafür sind 20 Minuten Zeit.
Nicht alle Teilnehmer*innen machen das auch gerne. „Das kann ich auch zu Hause machen.“ „Ich habe da schon ein paar Ideen. Das brauche ich jetzt nicht so konkret.“ „Ich möchte mich lieber austauschen.“ Nach der Einzelarbeit haben sie aber meist doch etwas gefunden und sich Notizen gemacht.
Aus Listen auswählen
Listen und Aufzählungen (wie die im vorletzten Absatz) haben einen Nachteil: Da stehen immer zu viele Punkte. Du kannst und wirst nie alles machen. Wir können uns so viele überhaupt nicht merken. Deshalb wählen wir einen oder zwei Punkte aus der Liste aus und überlegen, wie wir das umsetzen können.
In einem Online-Seminar zum Storytelling gab es die Aufgabe, aus 13 Journalisten-Tipps für gute Storys, die drei für jede*n Einzelne*n neuen und nützlichsten auszuwählen. Weil das Seminar online stattfand, schickten wir die Liste per Mail im Vorfeld, mit der Bitte um Ausdruck. Für diese Einzelarbeit baten wir die Teilnehmenden den Platz vor dem Rechner zu verlassen.
Verhalten in schwierigen Situationen
Die Trainerin schildert eine brenzlige Situation. „In einem Gewerkschafts-Workshop fällt der Satz: ‚Ohne die ganzen Ausländer und Flüchtlinge ging es uns garantiert besser. Zustimmendes Gemurmel von einigen anderen.‘ Schreibe für dich ganz alleine auf, wie du reagierst und was du als unmittelbare Reaktion sagst! Du musst das nachher im Plenum nicht zeigen oder vorlesen.“ Dann werden unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten aufgezeigt und besprochen. Am Ende könnte nochmal eine Einzelarbeit stehen: „Jetzt schau‘ nochmal auf deinen Zettel. Bleibst du bei deiner Reaktion oder veränderst du das?“ Nur wer will bringt seine Gedanken ins Plenum.
Tipps für die Einzelarbeit
- Begründen! Nicht alle Teilnehmer*innen schreien Hurra, wenn Einzelarbeit angesagt ist. Deshalb begründet bitte, warum gerade der Lernschritt in Einzelarbeit erfolgen wird.
- Präzise Instruktion! Formuliert genau, was in der Einzelarbeitsphase gemacht werden soll, wie Ergebnisse festgehalten werden und was mit den Ergebnissen nach der Einzelarbeit passiert.
- Einen geeigneten Arbeitsplatz wählen lassen! „Such dir einen Arbeitsplatz, wo du ungestört alleine nachdenken und arbeiten kannst!“ Im Online-Modus ist das ohnehin kein Problem. Aber auch da tut es gut, für die Einzelarbeit den Sessel vor dem Laptop zu verlassen.
- Kalkuliert die Zeit richtig! Nachdenken braucht Zeit und diese Zeit sollen die Lernenden auch bekommen, damit sie nicht an der Oberfläche bleiben. Trotzdem soll die Arbeitszeit für eine Einzelarbeit nicht zu großzügig bemessen werden, denn wer fertig ist, langweilt sich alleine schnell.
- Die Mischung macht’s! Wir haben als Sozialformen die Arbeit im Plenum, im Halbplenum, Kleingruppenarbeit, Partnerarbeit und Einzelarbeit. Alles ist in Präsenz wie online leicht organisierbar. Bevor ich mich entscheide, stelle ich mir Fragen: Welche Sozialform passt zum Inhalt? Was tut der Gruppe und den einzelnen Lernenden gut? Habe ich insgesamt eine gute Mischung und Abwechslung? Hier kannst du das Thema vertiefend nachlesen.
Nur allein ist auch fad…
…und nicht nur das. Für uns, die wir uns dem gemeinsamen und solidarischem Lernen verpflicht fühlen, muss Einzelarbeit in einen Lernprozess eingebunden sein, der in der Gemeinschaft, in der Gruppe stattfindet. Lernen in diesem Sinn lebt vom Austausch und auch von Reibung zwischen den Lernenden und ihren verschiedenen Positionen. Ich lerne immer auch von anderen, auch in der Trainer*innenrolle. Damit das funktionieren kann, brauche ich aber immer wieder Phasen für mich alleine, wo ich konzentriert nachdenken, etwas lesen und möglicherweise auch bewerten kann. Das ist der Sinn der Einzelarbeit in unseren Veranstaltungen.
Wie Einzelarbeit in einen Lernschritt eingebunden werden kann und alles andere als fad ist, zeigt die Methode Think – Pair – Share oder Allein – zu zweit – im Plenum. Jede und jeder denkt alleine über dieselbe Fragestellung nach. Dann trifft sie/er sich mit einer vorher festgelegten Partner*in. Nach diesem Austausch in Partnerarbeit geht es ins Plenum, wo alle oder ausgewählte Ergebnisse ausgetauscht werden. Ich mache das ganz gerne am Ende von Train-the-Trainer-Seminaren, wo am Ende die Frage steht: Was will ich von dem Gelernten als Erstes umsetzen?
Autor: Ulli Lipp
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