Was Lernen mit Beziehung zu tun hat und wie wir diese gestalten können
„Wir sind soziale Wesen. Diese Tatsache ist alles andere als trivial, sondern ein zentraler Aspekt des Lernens“, konstatiert Etienne Wenger in seiner sozialen Theorie des Lernens.
Menschen, egal ob Kinder oder Erwachsene, lernen zu einem großen Teil von anderen und das unabhängig davon, ob sie sich gerade bewusst in einer Lernsituation befinden oder nicht. Wir lernen, indem wir andere beobachten, imitieren, bzw. neue Verhaltensweisen aneinander erproben, neues Wissen testen und als Erfahrung etablieren. Lernen (z.B. in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung) findet zudem häufig in Gruppen statt. Diese kommt für einen mehr oder weniger langen Zeitraum zusammen, um sich gemeinsam zu einem Thema fortzubilden.
Welchen Einfluss dieses soziale Miteinander auf das Lernen hat und wie wir als Trainer*innen einen sicheren Rahmen (safe space) schaffen können, damit die Lernenden mit ihren unterschiedlichen Vorerfahrungen und Persönlichkeiten darin Platz finden, darum dreht sich dieser Blogbeitrag.
Kooperatives Lernen
Beschäftigen wir uns mit der Frage, wie sich das Erleben der Gruppe auf das Lernen auswirkt, so stoßen wir schnell auf das Thema des Kooperativen Lernens. Dieses beschreibt Bedingungen, die das gemeinsame Lernen in einer Gruppe befeuern und unterstützen oder verhindern. Das Ziel dieser Auseinandersetzung ist, zu verstehen, wie wir Lernarrangements optimal gestalten können, sodass die Lernenden selbstorganisiert Lerninhalte erarbeiten und Lösungen entwickeln können, um sie in der Folge in die eigene Praxis zu transferieren. Kooperatives Lernen ist voraussetzungsvoll und erfordert ein ausreichendes Maß an sozialer Kompetenz der Lernenden, aber auch der Trainer*innen.
Kennst du die folgende Situation?
Du hältst ein Seminar zur Abhaltung von Betriebsversammlungen. Du arbeitest mit Material, das sich in der Praxis gut bewährt hat. In einer Gruppenarbeit geht es darum, einzelne Materialien für die eigene Praxis zu adaptieren. Du besuchst die einzelnen Gruppen, um nachzufragen, ob sie noch weitere Erklärungen brauchen. Die meisten Gruppen arbeiten aktiv und engagiert. In einer Gruppe entwickelt sich eine unproduktive Stimmung. Sie reklamieren, dass der Arbeitsauftrag für sie zu vage und zu unklar ist und dass sie den Eindruck haben, dass sie davon auch nichts profitieren oder mitnehmen können.
Was geht hier vor? Um herauszufinden, welche Dynamiken in dieser Lerngruppe gerade wirksam sind, kann ich diese aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Im #grumo wurden bereits viele dieser Modelle am Beispiel einer fiktiven Gruppe beschrieben. Prädikat: lesenswert! In diesem #dimi Beitrag möchte ich anhand der oben genannten Situation reflektierende Überlegungen anstellen und dich anregen, selbst über deine Erfahrungen im Umgang mit (Lern-)Gruppen nachzudenken.
Die themenzentrierte Interaktion
Ein hilfreiches Modell dazu ist die TZI (Themenzentrierte Interaktion). Diese geht auf die Psychoanalytikerin Ruth Cohn zurück. Auch wenn sie das Modell ursprünglich für die Arbeit in therapeutischen Gruppen entwickelt hat, wird es heute zum allgemeinen Verständnis von Gruppenprozessen herangezogen und im pädagogischen Feld häufig angewendet. Besonders bei Lernprozessen, die teilnehmer*innenorientiert gestaltet werden, hilft das Modell, um zu verstehen, wie die Bereiche Thema, Gruppe und Individuum zusammenwirken.
Das Modell kann uns helfen, Situationen zu analysieren und Ideen zum Umgang damit zu entwickeln. Für wichtig halte ich dabei das Bewahren einer neugierigen Offenheit in Verbindung mit dem Versuch, die Situation in meinem Kopf zunächst möglichst wertfrei zu beschreiben. Trainiere ich mit einer/einem Co-Trainer*in, so ist der Austausch bereichernd und Teil des professionellen Arbeitens. Wesentlich ist für mich auch hier das Bewusstsein für die Wirkung von Sympathien und Antipathien und der reflektierte Umgang damit.
THEMA: Das zu behandelnde Sachthema ist meist das Ziel des Zusammenkommens einer Gruppe und das Verbindende. Das Sachthema wird (meist) offen benannt und leitet die Zusammenarbeit im Erschließen der Lerninhalte, aber auch, wenn das Thema in einer kontroversen Auseinandersetzung zerpflückt wird. „Wir arbeiten uns am Thema ab“, ist eine passende Umschreibung. Möglicherweise ist das offen benannte Thema auch nur eine Scheinthema und einzelne Mitglieder der Gruppe verfolgen eine andere Agenda im Seminarsetting: sie wollen z.B. eher Netzwerken, als sich mit dem Inhalt auseinandersetzen, wollen eher ihre bestehende Kompetenz unter Beweis stellen, als etwas Neues lernen. Dies wirkt sich natürlich auf das Lerngeschehen aus.
Ohne den Anspruch auf eine einzig richtige Interpretation erheben zu wollen, könnte ich bezogen auf die oben beschriebene Situation folgende Überlegungen anstellen: Wie attraktiv und spannend ist das Thema für die einzelnen Teilnehmer*innen dieser Kleingruppe wirklich? Was beschäftigt sie sonst noch? Welche Erklärungen brauchen sie, um sich auf das Thema einzulassen? Gibt es jemanden in der Gruppe, der stark auf die Gruppe einwirkt?
Komme ich zu dem Schluss, dass eine oder mehrere Personen ihre Kompetenz unter Beweis stellen wollen und aus dieser Sicht das Beispiel „zerlegen“, wäre eine mögliche Lösung, der Kleingruppe den Auftrag zu geben, ein eigenes Beispiel zu entwickeln und der Gesamtgruppe vorzustellen.
ICH: Beschreibt einerseits die Fähigkeiten, die der/die Einzelne in die Gruppe einbringt, andererseits betrifft diese Ebene auch viele Fragen, die sich die Lernenden bewusst oder unbewusst stellen. Passe ich in die Gruppe? Gibt es andere, die mir ähnlich sind und an die ich mich anhalten kann? Darf ich diese Frage stellen oder blamiere ich mich? Nicht selten kommen unbewusste Ängste auf, die einzelne Teilnehmer*innen aus ihrer Lernbiographie kennen und die auf das aktuelle Lerngeschehen einwirken.
Gehen wir zu unserer Situation zurück: Wer sind die Teilnehmer*innen? Als Trainer*in versuche ich hier, die Einzelnen als Individuen wahrzunehmen und einen Rahmen zu schaffen, dass jede/r in seiner/ihrer Einzigartigkeit dabei sein kann. Mit welchen Menschen habe ich es hier zu tun? Wer ist anders und sticht heraus? Braucht es einen Rahmen, der es allen ermöglicht, sich so zu beteiligen, wie sie möchten? Gibt es Personen, die spezifische Bedürfnisse haben, z.B. sprachliche Barriere, körperliche Einschränkungen? Welchen Einfluss hat die Zusammensetzung der Gruppe auf den Lernerfolg oder die Bereitschaft zur Kooperation? Möglicherweise komme ich, bezogen auf das Beispiel, zu dem Schluss, dass ich die Gruppenzusammensetzung bewusster steuern möchte, um eingefahrene Rollen und Subgruppen aufzuweichen.
WIR: Hier geht es um das Zusammenwirken in der Gruppe. In jeder Gruppe werden die Positionen verhandelt: Wer hat hier das Sagen? Welche Wortmeldungen werden gehört und aufgenommen, welche nicht? Wer bekommt Bestätigung und Anerkennung, wer nicht? Mit wem wollen viele zusammenarbeiten und wer bleibt „als Letzte/r“ im Seminarraum zurück? Hier kann es zu Konkurrenz, Widerstand oder Ausschluss kommen. Die Dynamiken, die auf dieser Ebene entstehen, haben einen starken Einfluss auf den Lernprozess. Als Trainer*in bin ich Teil der Gruppe, wenn auch in einer anderen Funktion. Ich gestalte das Wir mit und habe die Verantwortung sicherzustellen, dass vereinbarte Regeln, aber auch unausgesprochene Vereinbarungen (z.B. alle sind wichtig, keine sprachliche Diskriminierung) gewahrt werden.
Bezogen auf unser Beispiel könnte ich zum Schluss kommen, dass beim Versuch, die Aufgabe zu verstehen, Unklarheiten entstanden sind und sich dazu ein Konsens in der Arbeitsgruppe entwickelt hat. Positiv für die Gruppe kann sein, dass sich dadurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt hat. Deshalb würde ich aufpassen, dass nicht ich als Trainer*in als ihr Gegenüber hergenommen werde, sondern das Thema. Ich könnte sie anregen, ihre Kritik am Beispiel genauer auszuformulieren und dieses einer Analyse zu unterziehen. Welche Ideen kommen dir, wenn du über diese Situation nachdenkst?
GLOBE: Die Umwelt des Gruppenprozesses beschreibt die Rahmenbedingungen, in denen dieser stattfindet. Damit kann der institutionelle aber auch der gesellschaftliche Rahmen gemeint sein. Dieser wirkt meist unbewusst auf die Gruppe ein. Im Seminarsetting können hier unterschiedliche Aspekte wirksam werden: Woher kommen die Teilnehmer*innen (institutionell, regional,…)? Gibt es Vorgeschichten und Verstrickungen, die möglicherweise über die Einzelpersonen hinausgehen (z.B. Zugehörigkeiten zu bestimmten Gewerkschaften oder Organisationseinheiten)? Gibt es aktuelle Ereignisse, die eine starke Wirkung auf die Gruppe haben z.B. tagespolitische Themen, Krisen jeder Art,…
Wie kann die TZI im Training genutzt werden?
Neben der Nutzung der TZI als Analysewerkzeug benennt Ruth Cohn Regeln, die das Arbeiten in Gruppen unterstützen. Folgende Regeln können daraus für den Trainingsalltag abgeleitet werden:
- Stärke und unterstütze die Selbstverantwortung der Lernenden. Gib ihnen Gelegenheit, ihre Eindrücke, Gefühle mitzuteilen.
- Beobachte die Lerngruppe und etwaige Störungen genau. Das gezielte Ansprechen kann den Gruppenprozess unterstützen und voranbringen.
- Lege Wert darauf, dass jede/r Lernende für sich selbst spricht.
- Mache dir bewusst, was du denkst und fühlst und kommuniziere offen und klar.
- Beachte Körpersignale bei dir selbst und anderen und reflektiere ihre Bedeutung.
- Interpretiere sparsam und frage nach, um zu verstehen, was dahintersteckt.
Reflektieren und intervenieren
Die TZI eröffnet viele mögliche Sichtweisen auf den sozialen Lernprozess und kann auch als Eisberg-Modell gelesen werden. Das heißt, das Sachthema ist sichtbar und bearbeitbar, die unteren Teile der Ich- und Wir-Ebenen liegen häufig im Unbewussten und können nur durch bewusstes Einlassen und Reflektieren zugänglich gemacht werden. Das Arbeiten mit Situationen, wie der oben beschriebenen, ist ein Weg, um die eigene Reflexion anzuregen und den Umgang mit Gruppenprozessen zu schärfen. Eine Methode, die ich hier sehr gerne anwende, sind die „Critical Incidents“. Situationen werden möglichst aus einer neutralen Beobachter*innenposition beschrieben und nach den Kriterien spontane Reaktion, Hintergrund und Lösungsstrategien analysiert. „Critical Incidents“ eignen sich sowohl zur Selbstreflexion als auch zur Schärfung der Wahrnehmung von Gruppenprozessen in einem Train-the-trainer Setting. Hier ein Beispiel aus dem Seminar „Klein aber oho“.
Zum Weiterlesen
- König, Oliver; Schattenhofer, Karl (2015): Einführung in die Gruppendynamik. 7. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Verl. (Compact).
- Wenger, Etienne (2009): A social theory of learning. In: Knud Illeris (Hg.): Contemporary theories of learning. Learning theorists … in their own words. 1. publ. London u.a.: Routledge, S. 209–218.
- Hier ein kurzer Überblick über Gruppendynamische Modelle und Übungen.
- Hier ein Einblick in das Konzept des kooperativen Lernens.
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Autorin: Margret Steixner
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