#thedi: Gegenmacht „bilden“ – Teil 3

Amartya Sen
Amartya Sen, cc: Philip Taucher

„Nicht die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit auf der Welt unvollkommen ist – vollkommene Gerechtigkeit erwarten nur wenige von uns -, treibt uns zum Handeln, sondern die Tatsache, dass es in unserer Umgebung Ungerechtigkeiten gibt, die sich ausräumen lassen und die wir beenden wollen.“

(Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit)

Ungerechtigkeit ≠ Widerstand

„Sie lassen sich das alles gefallen, weil es ihnen immer noch zu gut geht!“ Eine alltagspsychologische Diagnose, die wir alle schon ziemlich oft gehört haben. Der aktuelle Beitrag rückt die Menschen, die unsere Gegenmacht-Strategie mittragen sollen, in den Mittelpunkt.

Durch unsere gewerkschaftliche Brille betrachtet gibt es Ungerechtigkeiten ohne Ende, gesellschaftlich und im Betrieb. Weshalb sind wir so oft mit enden-wollendem Widerstandsgeist konfrontiert? Konstruktiv gefragt: Was sind die Treiber, die Motivatoren, die Menschen überhaupt dazu bringen, Widerständigkeit zu entwickeln?

Unrecht ertragen oder Unrecht bekämpfen?

Barrington Moore ist in einer großen historischen Studie der Frage nachgegangen, „warum Menschen sich so oft damit abfinden, Opfer ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein, und warum sie zu anderen Zeiten überaus zornig werden und mit Leidenschaft und Gewalt ihre Situation zu verändern suchen.“ Auch Axel Honneth geht in seinem Buch „Kampf um Anerkennung“ einer ähnlichen Frage nach. Beide Untersuchungen sind hinsichtlich der Umsetzung eines Bildungszieles „Widerständigkeit“ sehr hilfreich.

cc: Philip Taucher

„Kampf um Anerkennung“, „Missachtung“, „Empörung“, „moralischer Zorn“

Menschen sind soziale Wesen. Wir entstehen aus Beziehung, wir wachsen und entwickeln uns in Abhängigkeit, wir werden im Austausch mit unseren Mitmenschen sozialisiert, wir lernen und wir „bilden“ unsere Persönlichkeit durch Irritation und Konfrontation in Beziehung zu unserer Umwelt. Unsere „Identität“ ist sozial, immer in Beziehung/in Resonanz zu unserer Mitwelt (vgl. Joachim Bauer und Hartmut Rosa). Jeder Mensch steht daher im Spannungsfeld zwischen selbstbestimmtem Leben und Teilhabe an der Gemeinschaft. Alle, die mit heranwachsenden Kindern zu tun haben kennen das emotionale Ringen „zwischen Selbstbehauptung und Anerkennung.“ (Schäffter)

Ein stabiles soziales Gefüge, „Sozialität,“ entsteht nach Honneth durch drei Formen der Anerkennung: Liebe, Respekt und soziale Wertschätzung. In Wechselseitigkeit ausreichend vorhanden, halten diese Faktoren menschliche Gemeinschaften zusammen. Und die Menschen entwickeln so etwas wie eine moralische Ordnung, was an wechselseitiger Anerkennung erwartbar ist, was im Umgang miteinander ok ist und was nicht; vereinfacht gesagt, „was sie und andere vom Leben erwarten dürfen.“ Das Gegenteil von Anerkennung spiegelt sich in Erfahrungen von Missachtung, physischem Übergriff, Entrechtung, Angriff auf die Selbstachtung von Menschen.

Der Widerstands-Flow: Missachtungserfahrung – negative Gefühle – Ungerechtigkeitsbewusstsein – Potenzial für Widerstand

Anerkennung vs. Missachtung, CC: Philip Taucher

Bei Moore entsteht Empörung und in der Folge Widerstand daraus, dass Menschen empfinden, dass gegen den „ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag“ des – zu dieser Zeit und an diesem Ort – erwartbaren moralischen Umgangs miteinander verstoßen wird. Daraus entstehen negative Gefühle, moralischer Zorn, daraus wiederum die Triebkraft, Ungerechtigkeiten verändern zu wollen.

„Alle Probleme der Menschen haben soziale Bezüge.“ (Tom Kehrbaum)

Axel Honneth entwickelt diese Überlegung weiter. Er sagt, dass die im sozialen Wesen des Menschen begründete gegenseitige Anerkennung der springende Punkt ist. Wird durch Missachtung, Übergriff, Angriff auf die Selbstachtung oder Entrechtung dagegen verstoßen, entstehen Gefühle wie Wut oder Empörung. Diese negativen Gefühle sind für uns Menschen Hinweise für einen Unrechtszustand. Erst dieses emotional angestachelte Unrechtsbewusstsein kann einen Anstoß zu sozialem Widerstand und Konfliktbereitschaft geben (Solinas). Besonders dann, wenn, erstens, eine reale Chance auf verbesserte Lebenschancen besteht und, zweitens, die eigene Lebensperspektive leidet, weil dies durch Interessengruppen oder durch Strukturen verhindert wird. Beides beflügelt den Kampfgeist.

Dafür gibt es aber keine Automatik! Missachtungserfahrungen können auch in die gegenteilige Dynamik führen: Missachtung – soziale Scham – Depression – Unterordnung – Selbstaufgabe ggfs. sogar Selbstzerstörung. Damit wollen wir uns an dieser Stelle aber nicht befassen.

Bildungsziel Widerständigkeit

Vorweg: Der gewerkschaftliche Seminarraum ist nicht da, um Wissen in die Köpfe anderer zu flößen, sondern um gesellschaftliche und betriebliche Verhältnisse zu reflektieren und eine soziale Bindung für Ziele gesellschaftlicher Veränderung zu fördern! Unsere Bildungsangebote müssen dazu eine doppelte Alphabetisierung leisten:

  • Erstens hinsichtlich unserer „Werte-Ideen“: Freiheit, Gleichheit, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit etc. Historische Kämpfe – gut erzählt – mit Personen und Gesichtern verbunden; Kleingruppendiskussionen zu den Begriffen; Alltagsgeschichten, die diese Werte verkörpern sind mögliche Zugänge. Nur, wenn sich unsere Teilnehmenden auch zu unserer Wertegemeinschaft zugehörig fühlen, werden sie die Missachtung – unserer Visionen von einer gerechten Gesellschaft – durch den Interessensgegner auch als solche erkennen und empfinden.

  • Zweitens: Unrechtsbewusstsein zu kultivieren ist eine große methodische Herausforderung. Es funktioniert nicht, den Menschen zu erzählen, was die Gewerkschaft alles erreichen möchte oder für ungerecht hält. Wir müssen methodisch – mittels einer kritischen Analyse der Verhältnisse – eintauchen in den Mikrokosmos der unmittelbar, individuell und kollektiv erlebten Ungerechtigkeiten. Diese müssen in Verbindung gebracht werden mit den Emotionen der Beteiligten und ihren Hoffnungen auf Änderung. Klingt abstrakt, muss es aber nicht bleiben.

    Das AHA-Schema (Anger-Hope-Action) bei 1:1- Gesprächen aus dem Organizing ist so ein Modell. Die Annäherung an Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz erfolgt über sogenannte „weite“ und „tiefe“ Fragen, die auch den Ärger (Anger) über das Unrecht herausarbeiten helfen. Die Menschen sind fast immer in der Lage, zu formulieren, wie eine Verbesserung konkret aussehen könnte und verleihen damit ihrer Hoffnung (Hope) konkrete Gestalt. Sie können dann auch individuell dosierte Handlungsmöglichkeiten (Action) benennen.

    Vertiefende Problemanalysen zu ganz konkreten betrieblichen Missständen sollten auch den Verstoß gegen betriebliche Werte thematisieren (Leitbild ansehen). Beim Fördern von Widerständigkeit muss immer ein „menschenrechtliches“ Thema dabei sein (Uli Wohland). Etwas, wo jede/r auf der Straße sagt, „das geht gar nicht!“ und sich darüber empört. Wir müssen die Überzeugungskraft unserer berechtigten Forderungen mit solchen Emotionen aufladen. Das kann man im Seminarraum üben!

Unterlagen zum Download

Zum Weiterlesen

Lesetipp

Genannte (und auch andere) Bücher können HIER im Webshop des ÖGB-Verlags versandkostenfrei bestellt werden.

Autor: Gerhard Gstöttner-Hofer

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