Was bedeutet Emanzipation?
„Man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ Es gilt „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“
Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (S. 381 und S. 385)
Emanzipation meint die eigenständige Befreiung der Menschen aus knechtender Abhängigkeit von der Natur und von gesellschaftlicher Herrschaft und Ungleichheit. Emanzipatives Lernen meint ein Lernen, das diese Befreiung begleitet. Dies kann nicht alleine durch Bildung geschehen, zumal eine freie Gesellschaft Voraussetzung ist für ein emanzipiertes Lernen und zumal in einer unfreien, ungleichen Gesellschaft nicht alle emanzipativ lernen können oder überhaupt Zugang zu Bildung haben. Aber gleichzeitig ist kritische Bewusstwerdung über die eigene Situation und auch das Lernen der eigenen Handlungsermächtigung Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft.
Dieses handlungsermächtigende Lernen, dieses verändernde Lernen ist nicht nur adaptives Lernen, das heißt ein Lernen der Anpassung und Unterordnung unter Wirtschaftszwänge oder andere Notwendigkeiten. Dieses Lernen hat auch mit Engagement und mit Mut zu tun. „Du sollst dich nie vor einem Menschen bücken!“ so formulierte der Gewerkschafter Willi Bleicher die Notwendigkeit, für die eigenen Interessen einzustehen.
Emanzipatives Lernen: Die Lernenden im Mittelpunkt
Emanzipatives Lernen, geht aus von den Lernenden und von deren Problemen, Interessen und Erfahrungen und dem Zusammenhang dieser Probleme mit gesellschaftlichen Zusammenhängen. Es geht aus vom Wunsch nach Veränderung. Emanzipatives Lernen ist auch ein Lernen, dass die Idee einer veränderbaren Zukunft öffnet, einer gemeinsam veränderbaren Zukunft. Die US-amerikanische Literaturwissenschafterin Gayatri Spivak sagt es folgendermaßen: Emanzipatives Lernen ermöglicht es, sich andere Welten vorzustellen und von der eigenen abzusehen. Was gar nicht so leicht ist, unter den Routinen und Zumutungen einer ungerechten Gesellschaft.
Emanzipatives Lernen und emanzipative Bildung lassen sich schwer messen und deren Ergebnisse sind schwer mit denen von anderen Lernenden zu vergleichen. Sie ist maßlos, d.h. nicht messbar und prognostizierbar. Es lässt sich nicht schon im Vorhinein sagen, was am Ende herauskommt. Dieses Lernen und Lehren ist engagiert und geht aus von einem Standpunkt, dem Standpunkt der Lernenden. Dieses Lernen ist eine Praxis, die Freiheit zum Ziel hat. Die Freiheit der sich Bildenden wohlgemerkt. Sie bezieht ihren Standpunkt gegen den Zwang, Dinge zu lernen, die keinen Bezug zum eigenen Leben haben und eben nicht brauchbar sind!
Lernen ist politische Auseinandersetzung
So gesehen ist Lernen und Bildung immer politisch, immer Teil einer politischen Auseinandersetzung über die Gestaltung unserer Leben. Es gibt kein neutrales Wissen und Lernen! Dieses Lernen und diese Bildung ist ein Aspekt des grundlegenden Bedürfnisses der Menschen nach Dialog, nach Diskussion, nach gemeinsamer Entscheidung, Demokratie und Veränderung der Gesellschaft. Das Respektieren der BildungsteilnehmerInnen und ihrer Ansichten und Probleme ist zentral, in diesem Sinnen kann Bildung als ein heilender Prozess verstanden werden, in dem die Menschen zu Wort kommen.
Emanzipative Bildung und emanzipatives Lernen brauchen einen problemzentrierten Zugang, der an den persönlichen, sozio-kulturellen Erfahrungen der BildungsteilnehmerInnen ansetzt. Gleichzeitig sollten aber Fragen der Globalisierung und Ungleichheit miteinbezogen werden, weil sie uns alle betreffen und Voraussetzung einer gemeinsamen Analyse und Interpretation der sozialen Welt sind. Wir lernen und lehren, um ein kritisches Bewusstsein zu schaffen, mit dem Anspruch die Welt zu verändern und unsere Geschichte zu schreiben.
Solche Bildung, die – wie eben kurz charakterisiert – ausgehend von den Problemen der sich Bildenden handlungsermächtigend und brauchbar ist, die offen Räume für Reflexion, Aufmerksamkeit (Awareness) und Transformation oder Veränderung schafft, kommt in Gefahr abgelehnt zu werden. Abgelehnt zu werden von den Herrschenden!
Zum Weiterlesen
- Martin Allespach, Hilbert Meyer, Lothar Wentzel, Politische Erwachsenenbildung am Beispiel der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, Ein subjektwissenschaftlicher Zugang am Beispiel der Gewerkschaften, Marburg 2016.
Zu Willi Bleicher vgl. Seite 24ff. - Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Karl Marx/ Friedrich Engels – Werke. Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 378-391.
HIER online abrufbar - Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek bei Hamburg 1973.
- Gayatri Ch. Spivak, Righting Wrongs. Über die Zuteilung von Menschenrechten. Zürich 2008.
Die Bücher können HIER im Webshop des ÖGB-Verlags versandkostenfrei bestellt werden.
Autor: Stefan Vater
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