Yasemine und Paul sind völlig hin und weg. Sie haben gerade mehrere Tage in einem Selbsterfahrungsseminar verbracht. Mit glänzenden Augen erzählen sie den anderen von ihren Erlebnissen und berichten von hitzigen Diskussionen, Lob und Anerkennung, Antipathie und Genervtheit, die Minuten später in Sympathie und Verständnis umgeschlagen ist. „Wie das Wetter im April“ lacht Paul in die Kamera. Unsere fünf treffen sich heute wieder online. Pauls Kinder sind zu Hause, weil es im Kindergarten einen Verdachtsfall gegeben hat, deswegen kann er am Nachmittag nicht weg.
Fokussiertes Storming
„Schon witzig, dieses fokussierte Storming“ meint Rudi nachdenklich. Seine letzte Selbstverfahrungsgruppe liegt schon Jahre zurück, aber manche Situationen haben sich ihm unvergesslich ins Gedächtnis eingebrannt. „Man ist halt sonst nie so auf sich selbst und das hier und jetzt zurück geworfen, wie in diesen Settings.“ Yasemine nickt. Ihr macht diese Auseinandersetzung enorm viel Spaß und nach einem Jahr im on/off Lockdown war sie völlig ausgehungert nach Kontakt mit anderen Menschen. „Wollen wir versuchen, das Ganze auf die allgemeine Gruppenebene zu übertragen?“ fragt Beate. „Schließlich wollten wir uns ja heute ohnehin intensiv mit dem Storming beschäftigen, und da passt das doch gut dazu.“ Die anderen nicken und gemeinsam beginnen sie zu systematisieren:
Tuckman und die Storming-Phase
Bruce Tuckman entwickelte in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das Modell der Gruppenphasen. Das Modell ist seither verfeinert und angepasst worden, aber seine Arbeit ist immer noch grundlegend für die Betrachtung von Dynamiken in Gruppen. Im Storming (oft Phase zwei in Gruppenprozessen) beginnen sich die einzelnen Teilnehmer*innen nach einer Phase des Kennenlernens und Gemeinsamkeiten Feststellens (Forming Phase) wieder zu differenzieren. Das Trennende wird stärker wahrgenommen als das Verbindende. Das ist notwendig, um handlungsfähig zu werden. Eine Gruppe, die nichts Trennendes zulässt, sondern nur Verbindendes betont, wird sich nur in begrenztem Maß weiterentwickeln können.
Storming muss nicht schrecklich sein
Im Storming kann es heiß und hoch hergehen und zumeist spüren alle Teilnehmer*innen eine Art von Betroffenheit. Auch Lethargie, Gleichgültigkeit oder gereizte Genervtheit können Ausdruck dieser Betroffenheit sein. Leichter erkennbar ist die Betroffenheit derer, die emotional mitdiskutieren. Storming muss nicht heißen, dass alle streiten und man sich nachher versöhnen muss. Es heißt, dass Unterschiede festgestellt und besprechbar gemacht werden. Es kann auch lustig und unterhaltsam zugehen. Die Ausgestaltung des Stormings liegt viel an der Kritikfähigkeit, an der Offenheit und am Grad der Selbstreflexion der Teilnehmer*innen. Ein Indikator dafür, dass Storming statt gefunden hat, ist, wenn alle das Gefühl haben, die Dinge ein bisschen klarer zu sehen.
Storming Klassiker
Klarerweise gibt es Themen, die sich sehr gut für das Storming anbieten und die tauchen auch irgendwann im Gruppenprozess auf. Als Trainer*in sind es Marker, an denen man gut zupfen kann, wenn man die Gruppe im Storming unterstützen möchte. Manche Teilnehmer*innen versuchen das Storming zu verhindern, indem „unangenehme“ Themen bei Seite geschoben werden. Das Trügerische ist: Es geht dadurch nicht vorbei, es verschiebt sich nur auf später und dann will potentiell mehr angestaute Energie umso explosiver nach draußen.
- Werte und Konventionen: Wie wird hier gesprochen? Was ist uns wichtig? Worauf wollen wir achten?
- Hierarchie und Position (formelle und informelle): Wessen Meinung zählt? Wer trifft Entscheidungen und mit welchem Mandat? Wo stehe ich und wie sehen mich die anderen?
- Beziehungen: Wen finde ich interessant? Zu wem komme ich leicht in Kontakt, zu wem nicht? Welche Subgruppen etablieren sich?
- Ziele: Wollen wir alle in die selbe Richtung? Gibt es widersprüchliche Ziele? Gibt es Ziele, die nebeneinander bestehen können?
- Themen und Störungen: Haben sich schon Verhaltensweise gezeigt, die die Arbeitsfähigkeit einschränken? Können sie benannt werden? Welche Themen werden uns noch länger beschäftigen?
Gutes Storming braucht klare Worte und Ehrlichkeit. Ohne sich selbst zu zeigen und die eigenen Motive offen zu legen, wird die Gruppe immer wieder im Storming stecken. Das erfordert Mut von den Teilnehmer*innen und Geduld von den Trainer*innen.
Als Trainer*in im Storming
Als Trainer*in ist es wichtig, einzelne Schritte zu würdigen und Wortmeldungen Raum und Zeit zu geben. Eigentlich verbringt man als Trainer*in im Storming viel Zeit damit zu sagen: „XY hat da grade was Interessantes gesagt. Willst du es vielleicht noch mal wiederholen? Könnt ihr damit was anfangen? Was macht das denn, wenn sowas in den Raum gestellt wird? Wir waren grade vorher bei einem interessanten Thema, jetzt scherzt ihr über das Wetter. Kommen wir doch noch mal zurück zum Thema“.
Eberhard Stahl hat in seinem Buch „Dynamiken in Gruppen“ eine gute Zusammenfassung zur Rolle der Trainer*in in den einzelnen Gruppenphasen veröffentlicht. Für’s Storming hat er folgende Leitlinien zusammengefasst:
- Dem Raum geben, was im Raum ist
- Unterstützung bieten, ermutigen
- Hinweise aufgreifen, den Finger drauf legen
- Wortmeldungen aufgreifen, ohne die Bearbeitung zu forcieren
- Präzisierungshilfe anbieten, Beobachtungen teilen
- Themenspeicher führen, damit nichts vergessen wird
- Allparteilich und respektvoll sein, Positionen ernst nehmen
- Belastbarkeit der Beteiligen und eigene Belastbarkeit im Auge behalten, Pausen verordnen
Ausstiege und Überleitungen
„Arg, was wir da alles gesammelt haben. Könnte man fast schon veröffentlichen“ meint Beate und lehnt sich erschöpft zurück. „Über Storming reden ist auch anstrengend“ findet sie und blickt in die Runde. Auch die anderen vier wirken etwas müde. Sie haben eine Stunde lang tatsächlich sehr fokussiert versucht Storming für sich zu umreißen.
„Jetzt brauchen wir noch Ausstiegsszenarien“ meint Rudi. „Oft hat die Phase ja eh ein natürliches Ende, weil die Unterschiede befriedigend besprochen oder zumindest festgestellt sind. In einem Train the Trainer-Setting bietet sich ein gruppendynamischer Input oft nach einer intensiveren Storming-Diskussion an. Aber was sind denn eure Interventionen, wenns zeitlich eng wird?“ Die fünf sind sich einig, dass es wichtig ist, klar zu machen, dass da ein Thema offen bleibt, das zeitlich jetzt nicht mehr behandelt werden kann. Maria ergänzt noch „Ich frag ab, ob das jetzt alle mal so stehen lassen können und wenn nicht, dann versuche ich noch eine Vereinbarung zu erzielen, wie die Gruppe mit der Thematik weiter umgehen will. Oft können sie sich da auf ein gemeinsames Vorgehen einigen.“
Die fünf beschließen es für heute gut sein zu lassen. „Eigentlich wollte ich noch über Attraktivität reden“ meint Yasemine, „weil das im gruppendynamischen Kontext so oft ein wichtiges Thema ist. Aber das verschieben wir dann besser auf nächstes Mal“. Die anderen Nicken und mit einem gemeinsamen Winken verabschieden sich alle aus dem virtuellen Raum.
Autorinnen: Gerda Kolb und Irene Zavarsky
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