Wie gewerkschaftliche Bildung die Vielfalt in Lerngruppen fördert
Die einen tippseln gelangweilt am Handy, die anderen haben einen hochroten Kopf, weil sie den Inhalten nicht folgen können. Heterogene Lerngruppen sind für viele Trainer:innen ein Albtraum. In der gewerkschaftlichen Bildung ist Vielfalt unter Teilnehmer:innen jedoch Alltag. Wie können Lernprozesse gestaltet werden, die allen was bringen? Geht das überhaupt? Wir sagen: Ja! Und haben Tipps und Beispiele für euch.
Was bedeuten Heterogenität und Vielfalt?
In der Pädagogik meint Heterogenität, dass sich Lernende innerhalb einer Gruppe in Merkmalen unterscheiden, die fürs Lernen relevant sind – zum Beispiel durch
- Alter,
- Geschlecht,
- Wissen und Kompetenzen,
- Berufs- und Lebenserfahrung,
- Bildungshintergrund,
- Zugang zum Lernen,
- Interesse und Motivation,
- kulturelle und soziale Herkunft,
- oder Lerntypen.
All diese Merkmale beeinflussen die Dynamiken in Lerngruppen und damit das Lernen und Lehren. Heute wird eher von Vielfalt und Diversität als von Heterogenität gesprochen, um die Chancen, die in der Verschiedenheit liegen, zu betonen. Lange Zeit galt Vielfalt als Hemmschuh für den Lernfortschritt. Daher wurde der Unterricht auf einen durchschnittlichen Schüler ausgerichtet, der exemplarisch für die Lerngruppe stand. Mit dem Ergebnis, dass die einen unter- und die anderen überfordert waren – alle aber demotiviert und wenig interessiert, sich mit dem Stoff weiter auseinanderzusetzen.
Wie können Trainer:innen mit Vielfalt umgehen?
Eine Lerngruppe als Ganzes ansprechen zu wollen, funktioniert angesichts zunehmender Vielfalt in Seminaren nicht. Auch Lehrformen wie der klassische Frontalunterricht haben spätestens in heterogenen Lerngruppen ausgedient. Um von der Verschiedenheit der Teilnehmer:innen zu profitieren, eignen sich vor allem soziale und kooperative Lehr-Lern-Formen, wie sie auch die gewerkschaftliche Erwachsenenbildung (GEB) anwendet. Bevor wir uns Beispiele aus der GEB anschauen, hier ein paar Tipps, wie Trainer:innen heterogene Lernsettings gestalten können (nach Sekler/Steixner, 2020).
Die Gruppe gut starten!
Der Schlüssel dazu, ob eine Lerngruppe funktioniert oder mühsam wird, liegt – genau: am Anfang. Gerade in sehr bunten Gruppen ist es wichtig, viel Zeit, Energie und Aufmerksamkeit in diese Startphase zu investieren. Die Teilnehmer:innen müssen die Möglichkeit haben, sich gegenseitig kennenzulernen und gegenseitiges Vertrauen zu entwickeln. Nur dann trauen sich alle, sich aktiv einzubringen, sich zu Wort zu melden und ihre Erfahrungen zu teilen. Eine unterschätzte Rolle spielt dabei die altbekannte Vorstellrunde: Hier erfahren nicht nur alle Anwesenden etwas über die anderen, es muss auch jede und jeder schon einmal vor der ganzen Gruppe sprechen – die erste Hürde für spätere Wortmeldungen ist dadurch schon mal überwunden.
Ein paar Beispiele aus der Praxis …
Zusammensetzung der Trainer:innen-Teams in REFAK-Seminaren
Bei der Zusammensetzung der Trainer:innen-Teams achtet die REFAK-Lehrgangsleitung auf größtmögliche Vielfalt, um die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer:innen auch auf der Trainer:innenseite abzubilden. Dabei wird auf eine gute Mischung von Theorie- und Erfahrungswissen, interkulturellen Kompetenzen, Geschlecht, Herkunft, Erfahrung als Betriebsrät:in/Personalvertreter:in/Gewerkschafter:in und Inklusion von Trainer:innen mit besonderen Bedürfnissen geachtet.
IT-Tandems in der Wiener BetriebsrätInnen-Akademie
Die BRAK setzt stark auf kooperatives und soziales Lernen. Zum Beispiel werden die Teilnehmer:innen zu Beginn des Lehrgangs in IT-Tandems zusammengespannt, um sich während der Ausbildung bestmöglich gegenseitig zu unterstützen – beim Gestalten von PowerPoint-Folien, der Suche im Internet, dem Bedienen diverser Apps etc. Dafür bewerten die Teilnehmer:innen ihre IT-Kenntnisse auf einer Skala von 1 bis 4: von „Ich bin totale Anfängerin, totaler Anfänger“ bis „Das gehört zu meinem täglichen Job“. Anhand dieser Einschätzung werden IT-Tandems gebildet, die zusammen jeweils 5 Punkte ergeben – Anfänger:innen (1) werden also von Vollprofis (4) unterstützt, Teilnehmer:innen dazwischen (2 oder 3) unterstützen sich gegenseitig. Jene mit viel Know-how unterstützen also jene mit weniger Erfahrung. Die Teilnehmer:innen sind somit für ihren Lernerfolg und den der anderen mitverantwortlich, Überforderung und Langeweile werden so ausgebremst.
Deutschunterricht, um die Sozialakademie zu besuchen
Die Gewerkschaft PRO-GE hat einer Arbeiterin mit Migrationshintergrund einen Deutschunterricht organisiert, um ihr so den Besuch der Sozialakademie (SOZAK) zu ermöglichen. Die Kollegin konnte sehr gut Deutsch sprechen, war im schriftlichen Ausdruck und im sinnerfassenden Lesen jedoch unsicher. Sechs Monate lang hat sie vor der Sozialakademie in Einzelsitzungen am Verstehen und Schreiben von komplexen Texten wie Gesetzeskommentaren etc. gearbeitet und konnte so die Sozialakademie abschließen. Warum war das wichtig? In höheren Bildungseinrichtungen wie der SOZAK sind Frauen und Arbeiter:innen mit Migrationshintergrund stark unterrepräsentiert. „Hier liegt ein enormes Entwicklungspotenzial – denn je besser Frauen und Betriebsrät:innen mit Migrationshintergrund ausgebildet sind, umso besser können sie ihre Kolleg:innen im Betrieb vertreten“, so Rudi Horky, Bildungssekretär der PRO-GE.
Wie erlebt ihr Vielfalt in euren Lerngruppen? Wie bereitet ihr euch als Trainer:in oder Referent:in vor? Welche Methoden haben sich bewährt? Schreibt uns eure Erfahrungen!
Mehr zum Thema heterogene Lerngruppen:
- Wie man mit heterogenen Gruppen in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung umgeht und welche Einflüsse die individuellen Bildungshintergründe auf das Lernen haben, behandeln Nicola Sekler und Margret Steixner im REFAK-Seminar “Heterogene Bildungshintergründe”.
- Die daraus entstandenen didaktischen Prinzipien könnt ihr in diesem Praxisbericht nachlesen.
- #dimi_09: Diversity: Wie auf Verschiedenheit in Lerngruppen eingegangen werden kann
Autorinnen: Irene Steindl, Pia Lichtblau
Illustrationen: Julia Stern
Nächstes Mal: Ziele, Ziele, Ziele
Klar, es geht in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung um demokratische Bildungsprozesse, um lebenslanges Lernen usw. Aber was bedeutet das konkret? Was haben sich Gewerkschaften für die nächsten Jahre vorgenommen? Und wie wollen sie diese Ziele erreichen? Wir fragen nach …
Lust auf mehr? Zu allen Folgen der Serie #geb – Gewerkschaftliche Erwachsenenbildung kommst du HIER!
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