Die EU erleben…

..in der Wiener Gewerkschaftsschule

Viele Jahre lang flogen Gruppen von österreichischen Gewerkschaftsschul-teilnehmer*innen für ein paar Tage nach Brüssel und besuchten dort die wichtigsten EU-Institutionen. 2019 kam es zur letzten Reise nach Brüssel. Was bleibt sind die Bildungsziele, und der Auftrag, diese auch ohne Reise umzusetzen. Wie man diese Bildungsziele umsetzen kann, haben wir, die Wiener Gewerkschaftsschule, uns überlegt.

Die dabei verfolgten Bildungsziele waren:

  • Eine intensive Auseinandersetzung mit den europäischen Institutionen
  • Brüssel, als „Hauptstadt“ der Europäischen Union, näher kennen zu lernen
  • Direkte Begegnungen mit Akteur*innen vor Ort
  • Bearbeitung wichtiger und aktueller EU-Themen
  • Entwicklung eines differenzierten bzw. kritischen EU-Bewusstseins
  • Abbau von Vorurteilen
  • Entwicklung von Handlungsoptionen (vgl. Handbuch Brüsselreisen, 2019)

Die EU erleben. Im Seminarraum in Wien.

Der große Vorteil einer Reise besteht darin, in Bewegung zu kommen, den gewohnten Platz zu verlassen, eine neue Sichtweise einzunehmen, eine andere Perspektive zu erfahren. Diesen Perspektivenwechsel wollten wir den Gewerkschaftsschulteilnehmer*innen auch ohne physische Reise nach Brüssel ermöglichen. Die Methode unserer Wahl war dabei das Soziodrama.

Soziodrama ist eine Methode, welche dabei unterstützt soziale Situationen zu verstehen, eine emotionale Erfahrung mit dem Thema zu ermöglichen, neue Erkenntnisse und Einsichten zu den einzelnen Rollen/Perspektiven zu erlangen und neue Handlungsmöglichkeiten kennenzulernen bzw. auszuprobieren (vgl. Stadler; Kern. 2010).

Sobald es wieder möglich und erlaubt war, fand unter den entsprechenden Corona Auflagen Mitte Juni 2021 ein Wochenende mit dem Vorhaben, “die EU zu erleben”, in Wien statt. Mit Hilfe des soziodramatischen Rollenspiels wollten wir eine spielerische, auf Erfahrung und Erleben ausgerichtete Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen. Das Ziel bestand darin, einen multiperspektivischen Blick auf die EU, ihre Institutionen und der relevanten Player (mit all ihren Dynamiken und Ambivalenzen) zu erlangen, und eigene Bilder und Sichtweisen zu hinterfragen.

Reisevorbereitungen

Der Freitag stand zum einen im Zeichen der Reisevorbereitungen im Sinne einer Erwärmung der Gruppe füreinander, mit dem Ziel eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre zu schaffen. Es nahmen Teilnehmer*innen aus zwei Lehrgängen teil, die sich aufgrund des bisherigen Online-Unterricht nur wenig kannten. Zum anderen setzen wir uns am Freitag mit eigenen Bildern und Erfahrungen zum Thema EU auseinander.

Die Reise

Der Samstagvormittag war der Reise nach “Brüssel” gewidmet, und bildete somit das „Herzstück“ des Wochenendes. Die Teilnehmer*innen wurden ersucht, ihre Sichtweisen, ihre Anschauungen auf den Sesseln zurückzulassen und sich auf den ersten Perspektivenwechsel, in ein Land der EU, einzulassen. Die Teilnehmer*innen wurden dazu aufgefordert, sich auf einer mit Klebeband am Boden aufgebrachten Landkarte zu positionieren, und aus der jeweiligen Länderperspektive wie sie die EU, die Nachbar*innen und sich selbst wahrnehmen zu erzählen.

CC: WGS

Der nächste Perspektivenwechsel führte sie in eine selbstgewählte soziale Rolle in ihrem Land. So kam es dann etwa zu Schilderungen der aktuellen Lebenssituation eines Bauern einer Kooperative in Südspanien, einer IKEA-Möbeldesignerin in Schweden oder eines Hartz-IV-Empfängers in Ostdeutschland.

Nach diesem Reisebeginn, welcher die Vielfalt, Unterschiedlichkeit, Ambivalenz und schiere Größe der EU erlebbar machte, kam es zum letzten Perspektivenwechsel, und zwar in die Rolle eines relevanten Players auf europäischer Ebene. Zur Auswahl standen: EU-Kommission, EU-Parlament, EWSA, Rat, Gewerkschaft, Bürger*innen, Presse, Wirtschaftslobby.

Die Teilnehmer*innen bekamen kurz Zeit, sich in ihre Rollen einzufinden. Dies geschah mit Hilfe von vorbereiteten Arbeitsblättern zu den jeweiligen institutionellen Rollen. Die Blätter gaben Informationen in Bezug auf das Selbstverständnis der jeweiligen Institution und der Beziehung zu den anderen institutionellen Rollen. Anschließend wurde der Seminarraum mit Hilfe von Tischen, Stühlen und Pinnwänden zur Bühne umgestaltet. Die Teilnehmer*innen richteten sich ihren Platz ein. Die Rollenübernahme wurde durch ein kurzes Interview unterstützt und intensiviert. Danach kam es zum freien Spiel. Die Teilnehmer*innen begegneten sich auf der Bühne in ihren Rollen und versuchten ihre Interessen durchzusetzen. Nach ungefähr 45 bis 60 Minuten (unterbrochen durch ein kurzes Zwischenfeedback aus den Rollen) wurde das Spiel beendet und die Teilnehmer*innen gaben in ihren Rollen eine Rückmeldung über das Erlebte:

  • Wie viel Macht hatte ich?
  • Wer waren meine Verbündeten?
  • Was habe ich erlebt? Was war mir wichtig?
  • Was ist mir gelungen? Was nicht?

Zum Abschluss wechselten die Teilnehmer*innen noch einmal in die von ihnen zuvor gewählten sozialen Rollen (IKEA-Möbeldesignerin,…) und berichteten aus dieser „Zuschauer*innen“-Perspektive über das Erlebte. Die Reise war nun zu Ende. Die Teilnehmer*innen entrollten sich sorgfältig und nahmen wieder als sie selbst auf ihren Stühlen Platz.

Reflexion und Integration des Erlebten.

Wie nach jeder Reise galt es auch hier, die vielen Erlebnisse, die unterschiedlichen Eindrücke gut aufzufangen und zu integrieren. Wir gaben den Teilnehmer*innen in mehreren Runden und unterschiedlichen Settings ausreichend Zeit und Raum, sich über das Erlebte auszutauschen. Alle Teilnehmer*innen waren sich einig, dass es „in echt sicher gleich abläuft“.

Resümee der Wiener Gewerkschaftsschule

  • Die Teilnehmer*innen haben sich sehr aktiv eingebracht und sind nach einer Erwärmungsphase gut ins Erleben gekommen.
  • Durch den Rollenwechsel wurden Vorurteile erlebbar, teilweise widerlegt, teilweise bestätigt, aber auch verstehbar und dadurch vielleicht auch aushaltbarer.
  • Es gab sehr viele Begegnungen zwischen den unterschiedlichen Rollen.
  • Es war eine neue/andere Erfahrung und ermöglichte viele Einsichten abseits der Komfortzone.
  • Es war eine Reise wert.

Was tun mit dem Erlebten

Eine erlebnisorientierte Einheit zum Thema EU birgt aufgrund ihrer Komplexität und Ambivalenz ein gewisses Maß an Frustrations- und Empörungspotential. Der Samstagnachmittag endete deshalb mit einer Einheit zur gewerkschaftlichen Gegenmacht, und der Frage, wie wir sowohl als Gewerkschaft, aber auch als einzelne Gewerkschafter*innen vor dem Hintergrund der Komplexität der EU in die Handlungsfähigkeit kommen, und somit Frustration und Empörung in konstruktiven Widerstand und Gestaltungsfähigkeit verwandeln können?

“Wichtiges ist immer mit Emotionen verbunden. Sie machen Kognitionen erst handlungsrelevant. Ob eine Wahrnehmung, Vorstellung oder ein Gedanke mich (zu etwas) bewegt, hängt von den Emotionen ab, die damit verbunden sind. Emotionen sind die Beweger der Kognitionen.” (Buckel, Christoph et al. 2021. S. 41f)

Ausblick

Die größte Herausforderung wird weiterhin sein, die Teilnehmer*innen in die Handlungsfähigkeit im Sinne der Gegenmacht zu bringen. Dahingehend haben wir uns schon einige Gedanken gemacht, über die wir euch gerne bei einem unserer nächsten Beiträge berichten werden. Sie kreisen ein wenig um die Schlagwörter persönlicher Anschlussfähigkeit, Rollenverständnis als Gewerkschafter*in, Emotionalisierung durch Selbsterfahrung und vor allem – alt aber gut – Empowerment.

Literaturhinweise

  • Buckel, Christoph; Reineck, Uwe; Anderl, Mirja: Praxishandbuch Soziodrama. Theorie, Methoden, Anwendung. Beltz Verlag. 2021
  • Stadler, Christian; Kern, Sabine: Psychodrama. Eine Einführung. VS Verlag. 2010

Autor: Markus Reisinger

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