Präsenztrainings in Corona-Zeiten
Nach dem Lock-Down gibt es wieder Präsenzseminare. Die sehen wegen der Einschränkungen anders aus. Nach Lockerungen entstehen Unsicherheiten. Was geht? Was geht nicht? Wie wird die Zukunft aussehen? Der Versuch einer Bestandsaufnahme.
Es gibt große Unterschiede
Anfang Juli 2020. Ich versuche herauszubekommen, welche Regeln für Präsenzschulungen gelten. Ich rufe bei den Auftraggeber*innen für meine eigenen nächsten Präsenzschulungen an. Auskunft 1 (Inhouse-Training in Graz): „Da gibt es eine kurze Sicherheitsbelehrung am Anfang. Das sind aber nur ein paar Sätze!“ Abstand möglichst einhalten! Jede*r passt selbst auf! Sonst Training as usual. Auskunft 2 (öffentlich ausgeschriebene Seminar in München): 1,5m Abstand, feste Plätze an Einzeltischen, Masken dürfen nur an den Tischen abgenommen werden. Keine Moderationskoffer mit Stiften. In den Pausen maximal zu zweit an den Stehtischen. Auskunft 3 (Seminaranbieter in Wien): „Wir stellen Masken und face shields zur Verfügung. Ob die Teilnehmer*innen die nutzen, ist deren Sache. Ansonsten halten wir uns an die staatlichen Vorgaben, die laufend lockerer werden. Ich schicke dir das.“
Interessant ist eine Randbemerkung: „Wir wissen nicht, welche Konsequenzen eine Ansteckung in einem unserer Seminare für uns hätte.“
Präsenz unter strengen Regeln
Ich besuche Ende Juni zwei Kollegen vor Ort, die unter den vergleichsweise strengen Infektionsschutzbestimmungen in Bayern arbeiten. Seminaranbieter*innen dürfen nur mit einem von den Behörden genehmigten Hygienekonzept öffnen. Hier der Link zu einem Beispiel.
Besuch 1: Gefahrgut-Training von vorne, aber nicht frontal
Ich besuche Uwe, den ich schon vor Corona erlebte. Da waren alle von der ersten Minute an in Bewegung und aktiv und in engem und wechselndem Kontakt. Das kann doch eigentlich nicht mit Abstand und Mundschutz funktionieren.
Uwe hat 9 Teilnehmer (alles Männer), jeder alleine an einem Tisch. Alle Tische in Reih und Glied und an denen bleiben die 9 Teilnehmer auch bis zur nächsten Pause sitzen. Uwe steht vorne, macht aber keinen Frontalunterricht. Er bewegt sich viel im Raum und setzt konsequent immer die Maske auf, wenn er seinen Platz verlässt. Er arbeitet wie üblich mit Pinnwand, Karten und Klebepunkten. Die Teilnehmer punkten nicht selbst, Uwe macht das für sie auf Zuruf. Er arbeitet mit vorbereiteten Bildelementen. Diese sind laminiert und damit desinfizierbar. Gruppenarbeiten gibt es zwar bei ihm nicht mehr, aber viele kurze Einzelarbeiten. Uwe hat die Phasen des Lehrgesprächs ausgeweitet und angereichert durch Schätzfragen und Quizzes. Die Teilnehmer sind voll dabei. Sie beteiligen sich aktiv, passives Zuhören gibt es nicht. Auch wenn Uwe den „normalen Zeiten“ nachtrauert, er begeistert auch unter diesen Arbeitsbedingungen. Es wirkt alles ganz spielerisch und nur beim genauen Hinschauen sieht man: Der Vorbereitungsaufwand ist auf alle Fälle größer.
Ich lerne: Die oft gehörte Behauptung „In Zeiten der Pandemie geht nur Frontalunterricht!“ ist grundfalsch.
Besuch 2: Ein Führungstraining
Ein anderer Kollege, eine andere Bildungseinrichtung. Im Führungstraining ist gerade Pause. Ich schaue mir die Raumgestaltung an und frage den Kollegen nach seinen Erfahrungen. Ich sehe Tische – normalerweise für zwei Teilnehmer*innen – jeweils mit einem Stuhl in U-Form aufgestellt. Der Abstand zwischen den Teilnehmer*innen ist sicher mehr als 1,50m, es wirkt locker. Die Teilnehmer*innen haben sich offensichtlich mit Freude allein auf dem Tisch ausgebreitet. Laptop, Unterlagen und ein Block zum Mitschreiben haben nebeneinander Platz. Der Kollege arbeitet viel im Stehen. Da ist genug Abstand, eine Maske bräuchte er nicht. Er arbeitet trotzdem mit einem face shield. „Du glaubst gar nicht, was da den Tag über zusammenkommt, was ich am Abend wegputze.“ Ich sehe den Vorteil von face shields: Das ist nicht nur Spuckschutz, die Sprache ist auf alle Fälle verständlicher als mit einer üblichen Maske und die Mimik bleibt sichtbar.
Die Akademie, die das Training veranstaltet, hat Gruppenräume so gestaltet, dass Abstände kein Problem sind. Ergebnisse hält nur ein Gruppenmitglied fest – am Laptop oder am Flip-Chart. Einen gemeinsam zu nutzenden Moderationskoffer gibt es nicht mehr. Alle Teilnehmer*innen bekommen eigene Stifte für die Dauer des Trainings. Kommentar des Kollegen zu diesen Arbeitsbedingungen: „Alles halb so wild!“
Wie können wir uns und unsere Teilnehmer*innen schützen?
Wir haben in den letzten Monaten viel über Infektionsschutz speziell bei COVID-19 gelernt. Es liegt an uns Trainer*innen, wie wir das Risiko in unseren Trainings in den nächsten Monaten reduzieren können. Wenn wir Präsenztrainings planen, denken wir an Aktivierung, Visualisierung, Praxisbezug und andere didaktische Kriterien. In Zukunft oder zumindest für längere Zeit kommt der Infektionsschutz als Planungsparameter dazu. Einige Anregungen dazu:
Abstand statt Nähe!
Das enge Aufeinandersitzen und „Köpfe zusammenstecken“ war gut. Lernen funktioniert aber auch mit Abstand. Ich hatte immer schon ein Faible für große Seminarräume mit viel Platz. Oft wurde ich für den Spruch belächelt: „Mein Seminarraum kann nicht groß genug sein!“
Der Satz könnte jetzt allgemeine Regel werden.
Kein Körperkontakt!
Sich berühren, das war eigentlich bisher völlig normal: Shake hands zur Begrüßung und zur Verabschiedung, „Give me five“, wenn etwas gemeinsam geschafft wurde. Bei Energizern gehörte Körperkontakt oft dazu, denken wir nur an den „Gordischen Knoten“ und andere Übungen. Es geht aber auch ohne Berührungen. Einige Teilnehmer*innen, denen das immer schon zuwider war, werden erfreut sein.
Verzicht auf gemeinsame Arbeitsmaterialien!
Niemand hat sich bisher Gedanken gemacht, dass man sich über gemeinsam benutzte Filzstifte und Pinnwand-Nadeln eine Krankheit holen kann. Auch da müssen wir umdenken und umlernen.
Partner- und Gruppenarbeiten auf Distanz!
Murmelgruppen, bei denen zwei oder drei Leute im wahrsten Sinn die Köpfe zusammensteckten, werde ich in Zukunft anders organisieren. Ein kurzer Lernspaziergang zu zweit im Freien erfüllt dieselbe Funktion, minimiert aber das Risiko. Die Nähe bei Gruppenarbeiten entstand einerseits aus Gewohnheit und andererseits, weil wir für die Gruppen oft wenig Platz hatten. In dem Moment, wo Kleingruppen genügend Raum gewährt wird, können die Teilnehmer*innen auch hier Abstand halten.
Lüftung
Das Virus hasst frische Luft. Je öfter wir – im wahrsten Sinn des Wortes – auf Durchzug schalten und die Fenster öffnen, je öfter wir an die frische Luft gehen und draußen arbeiten, umso mehr wird das Virus uns in Ruhe lassen.
Konsequenzen für die Seminar-Organisation
Das Pausenproblem
Bei meinen Besuchen in verschiedenen Tagungshäusern sah ich Teilnehmer*innen beim Arbeiten im Seminarraum vorbildlich auf Abstand. In den Pausen waren sie dann wieder wie in „alten Zeiten“ eng zusammen. Ein Schild auf einem Stehtisch im Pausenbereich mit der Bitte, sich nur zu zweit an den Tisch zu stellen, widerspricht allen Gewohnheiten von Seminarteilnehmer*innen.
Ein kleineres Tagungshaus hat im Pausenraum die festen Sitzgelegenheiten markiert, die belegt werden dürfen. Getränke werden serviert. Das ist natürlich aufwändig.
Ich habe keine Patentlösung, weiß aber, dass unsere Bemühungen im Training für die Katz sind, wenn sich unsere Teilnehmer*innen in Pausen und vor und nach den Arbeitseinheiten munter und distanzlos näherkommen.
Seminargruppen statt Teilnehmer*innen isolieren!
Für die Wiedereröffnung des Bildungszentrums der Arbeiterkammer in Wien gibt es auch Überlegungen: Wenn nicht schon eine Infektion, ein Infektionsverdacht bzw. ein entsprechend erhöhtes Risiko besteht, soll die Zusammenarbeit innerhalb von Seminargruppen unter Sicherheitsvorkehrungen ermöglicht werden. Umso wichtiger ist es, die Infektionsgefahr zwischen Seminargruppen (außerhalb der Seminarräume) zu minimieren (Toilette, Pausenzonen, Verpflegung) und hier Distanz zwischen den Seminargruppen zu schaffen. Wenn es unter diesen Bedingungen zu einem Verdachtsfall kommt, muss man nur die entsprechende (Unter)gruppe isolieren und testen und evtl. nicht gleich das ganze Seminarzentrum zusperren.
Tests
Seminare, bei denen sich Leute aus verschiedenen Organisationsteilen oder Firmen und verschiedenen Landesteilen oder Ländern mischen und nahe kommen, sind in Pandemiezeiten nicht weniger gefährlich als beliebte Schiorte. Wenn schon Lehrkräfte an Schulen regelmäßig und Urlaubsgäste, die nach Griechenland wollen, vor Reiseantritt getestet werden, ist es dann abwegig, auch an Tests für Teilnehmer*innen und Trainer*innen zu denken?
Ich habe bei meiner Recherche festgestellt: Auch wenn die Ansteckungszahlen zurückgehen, ein Restrisiko bleibt bei Präsenzseminaren. Wir können es reduzieren und trotzdem ein kooperatives und effektives Lernen möglich machen. Lernen soll auch mit Abstand Spaß machen.
Autor: Ulli Lipp
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen unter gleichen Bedingungen 3.0 Österreich Lizenz.
Volltext der Lizenz