#grumo_30: Ein Raum voller Expert*innen

Der Herbst der Seminare und Klausuren ist wieder voll durchgestartet. „Viel zu tun…“, „Es geht grade alles Schlag auf Schlag“, „Viele Anfragen“, „Vieles passiert gleichzeitig“, „… es scheint, als ob viele Abteilungen, Organisationen und Lehrgänge die letzten zwei Jahre in ein paar Monaten nachholen wollen“, so fasst Rudi die anfängliche Blitzlichtrunde zusammen. Unsere fünf Expert*innen haben sich trotz ihrer vollen Terminkalender die Zeit genommen, sich zu einem Austausch zusammenzusetzen. Heute geht es um Expert*innen im Seminar oder darum, wie es ist, wenn alle alles besser wissen.

Yasemine rubbelt sich durch die Haare „Ich muss ja gestehen, ich bin eine unmögliche Teilnehmerin. Letztens war ich auf einer Weiterbildung und nach einer Stunde war mir klar, dass ich das inhaltlich weit besser machen würde als die Vortragende. Methodisch konnte ich mir einiges mitnehmen, aber inhaltlich haben mir Äonen gefehlt.“  – „Und? Was hast du gemacht?“ Fragt Rudi. Yasemine zuckt die Achseln, „Ich hab versucht diplomatisch zu ein. Aber ganz glücklich war ich nicht damit.“

Unseren fünf Expert*innen ist das allen schon einmal passiert. Sie teilen ihre Erfahrungen mit Situationen, wo sie selber das Gefühl hatten, mehr Kompetenz zu haben als die Person, die vorne stand. Ihr Erfahrungsschatz bezieht sich nicht nur auf Seminare oder Vortragssituationen, auch gegenüber Führungskräften oder Teamleitungen ist bei manchen schon das Gefühl entstanden, kompetenter zu sein. „Manchmal macht man es sich auch leicht“ meint Paul. „Das Gefühl ‚ich könnte das besser‘ stellt sich schnell ein und man muss es selten unter Beweis stellen. Wie beim Fußball – da weiß auch das gesamte Publikum besser, wann der Ball abgespielt hätte werden sollen.“ Beate grinst ertappt. Sie ist eine sehr emotionale Fußballanhängerin und hat bei der letzten EM viele Spiele mit Paul gemeinsam gesehen.

Ergänzung? Angriff? Aufmerksamkeit?

Rudi lenkt das Gespräch wieder zurück auf das eigentlich Thema. „Mir hat der Austausch unserer Erfahrungen aus Teilnehmer*innensicht viel gebracht.“  Da er viel in Einzelsettings arbeitet, geht es ihm als Gruppentrainer oft so, dass er sich verunsichert oder gar angegriffen fühlt, wenn Leute in der Gruppe sitzen, die sich kompetenter geben oder kompetenter sind als er. Nach dem Erfahrungsaustausch ist ihm klar geworden, wie vielschichtig das Problem eigentlich ist: „Manchmal geht es einfach um Status, den anderen in der Gruppe das eigene Wissen beweisen zu wollen, manchmal um tatsächliche Unzufriedenheit mit den präsentierten Inhalten. Es hat jedenfalls nicht immer etwas mit mir zu tun. Und ich müsste ja nicht den Anspruch haben, die schlaueste Person im Raum zu sein, nur weil ich Vortragender oder Führungskraft bin.“ Yasemine nickt: „Das halte ich für einen ganz zentralen Punkt. Ich kläre ganz zu Beginn immer ab, wofür ich mich als Trainerin zuständig fühle und was ich bei der Gruppe lassen möchte. Da steht ‚Inhalt‘ meist auf der Gruppenseite. Auch von meinen Inputs behaupte ich nur, dass ich vermute, dass sie hilfreich sind. Das geht natürlich bei prozessorientierten Settings leichter als bei Fachvorträgen.“

Kritik ist gratis Feedback

Beate wiegt nachdenklich den Kopf. „In Wirklichkeit müsste man auch bei Fachvorträgen so ehrlich sein und die Grenzen des eigenen Wissens zugeben. Vielleicht hat die Kritikerin ja recht und ich bin wirklich nicht gut genug vorbereitet. Dann ist das wertvolles Feedback und es wird mir so hoffentlich nicht mehr passieren. Oder die inhaltliche Ergänzung geht am Thema vorbei, dann kann ich das getrost feststellen. Oder die Person versucht an meinem Sessel zu sägen, dann kann ich das ja auf der moderatorischen Ebene abwehren.“ – „Oder die Person will einfach nur deine Aufmerksamkeit“ ergänzt Maria. „Ich glaub wir dürfen nicht unterschätzen, welch mächtige Position wir vorne am Flipchart oder vor dem Beamer haben. Wir sind ja mit gutem Grund angefragt worden, ein bestimmtes Thema zu referieren oder zu moderieren, da wird uns automatisch Kompetenz dafür zugeschrieben.“  Sie unterhalten sich noch ein wenig über die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbild beim Reden vor Gruppen und beleuchten Aspekte wie Alter, Geschlecht, Herkunft und hierarchische Position in der Organisation als Faktoren, die eine Rolle spielen.

Noch menschlicher als irren ist recht haben wollen *

Maria lacht: „Alles Expert*innen: Das ist entweder die schrecklichste oder die beste Erfahrung die man machen kann.“ Expert*innen vom Fach sind entweder das aller kritischste Publikum, weil ihnen Schnitzer und Ungenauigkeiten sofort auffallen, oder sie sind das dankbarste Publikum, weil sie wissen, wie schwierig es ist, in dem Bereich Verantwortung zu übernehmen.

Die Positionierung als Vortragende*r ist besonders, weil es eine genaue Waage braucht zwischen Wissen und Erfahrung, die im Raum ist, anzuerkennen und zu würdigen und das eigene Licht trotzdem nicht permanent unter den Scheffel zu stellen. Die Balance kann nur situativ entschieden werden, weil das sehr von der Gruppenkultur und dem eigenen Status, den man in der Gruppe hat, abhängt.

Beate hat als Wirtschaftsexpertin schon viele Fachvorträge vor Fachpublikum hinter sich. Je nach Organisation, Anlass und Gruppenphase hat sie ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. „Wenn es mir ganz arg zu anstrengend wird, auf Fragen und Co-Referate einzugehen, dann sag ich das mittlerweile einfach. Einmal hab ich einen sehr gesprächigen Kollegen aufgefordert, sich doch einen eigenen Vortrag zu organisieren und nicht meinen zu kapern. Ich weiß, ist ein bisschen schnippisch, aber es hat die Situation dann gut gelöst.“  Rudi schaut Beate an: das wär ganz klar nichts für ihn. Um einen Fachvortrag vor Fachpublikum wird er sich nicht bemühen und er bewundert Beate, die sich dabei wohlfühlt wie ein Fisch im Wasser. Es geht noch ein wenig hin und her zwischen Fachvortrag und Prozesscoaching und den eigenen Vorlieben und Ängsten bei den verschiedenen Settings. Schließlich ebbt das Gespräch ab und Vereinzelte schielen Blicke auf Armband- und Handyuhren.

Wie weiter…

„Hat Klara eigentlich schon unterschrieben?“ Maria stupst Paul an, der immer noch nachdenklich vor sich hinstarrt. „Nein. Nächste Woche fahren wir hin. Wir nutzen dann gleich die Gelegenheit und schauen ein paar Schulen an, bevor wir gültig entscheiden, in welchen Stadtteil wir ziehen.“ Er kratzt sich am Hinterkopf und schaut in die Runde. Die Atmosphäre im Raum hat sich verändert. Sie ist nachdenklicher geworden. Erst beim vorigen Treffen hatte Paul in der Expert*innenrunde erzählt, dass seine Frau ein Jobangebot in einer anderen Stadt bekommen hat. Schließlich räuspert sich Yasemine: „Das macht mit uns auch was, oder?“ Die anderen nicken. „Vielleicht wollen wir das fürs nächste Treffen zum Thema machen? Wie tun mit Abschieden?“ Die anderen nicken.

* Hubertus Zorell, Theater Olé Njusslätter

Autorinnen: Gerda Kolb und Irene Zavarsky

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