#geb: Gewerkschaftsschulen

Energiezentren des gewerkschaftlichen Lebens

Zwischen dem ersten Lehrgang der Gewerkschaftsschule im November 1926 und dem Lehrgang im Jahr 2022 liegen nicht nur fast 100 Jahre, sondern auch gesellschaftliche und politische Umbrüche, ein Weltkrieg, Wirtschaftskrisen, die Corona-Pandemie und eine vollkommen veränderte Arbeitswelt. Gleich geblieben ist hingegen das Ziel, Funktionär:innen und Gewerkschaftsmitgliedern das geistige Rüstzeug zu vermitteln, damit sie ihre Aufgaben als Arbeitnehmer-Vertreter:innen bestmöglich erledigen können. Nur die pädagogischen Ansätze und die Inhalte wandelten sich über die Jahre.


Arbeiter:innenbildung

Am Anfang der Geschichte der Gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung stand Mitte des 19. Jahrhunderts die Idee, dass nicht nur Eliten Zugang zu Bildungseinrichtungen haben sollten, sondern auch Arbeiter:innen. Denn deren Bildungswege endeten meist mit dem Abschluss der Volksschule. 

Das wollte der „Radikal-Liberale Verein“ für die Fabrikarbeiter:innen und der Buchbindergeselle Friedrich Sander für die Handwerksgesellen im Revolutionsjahr 1848 ändern. Sander gründete den „Ersten Allgemeinen Arbeiterverein“ mit den zentralen Zielen „Belehrung durch leicht fassliche Vorträge“ und „Unterhaltung in würdiger, belehrender Weise“[1]. Die beiden Vereine, wie viele andere auch, wurden nach der Niederschlagung der Revolution aufgelöst.

Rüstzeug

Nicht aufgelöst wurde allerdings die Idee der Arbeiter:innenbildung. Im Jahr 1864 formierte sich der „Fortbildungsverein für Buchdrucker“ mit dem Ziel der fachlichen Weiterbildung der Mitglieder[2], im Jahr 1867 der „Arbeiterbildungsverein Gumpendorf“ mit dem Ziel, Arbeiter:innen durch Vermittlung von Wissen, Bildung und Fachkenntnissen das Rüstzeug zu geben, ihre politische und wirtschaftliche Lage aus eigener Kraft zu verbessern[4]. Die Blumenmacherin Albertine Moseberg gründete 1870 den ersten Arbeiterinnen-Bildungsverein, der sich für die Unabhängigkeit der Frau und gleichen Lohn für gleiche Arbeit einsetzte. Außerdem sollte die Lebenssituation der Arbeiterinnen so verbessert werden, dass sie sich als Menschen fühlen können und nicht als Sklavinnen[3]. Diese Vereine waren nur einige von den 237 Arbeitervereinen in Österreich-Ungarn[4].

Gewerkschaftliche Bildung

Auch die junge Gewerkschaftskommission setzte sich mit Bildungskonzepten auseinander und organisierte Vorträge zu Themen wie Taktik der Gewerkschaften bei Lohnkämpfen, Arbeitsschutz, Arbeitsverträge, Kampfmittel der Unternehmer gegen die Gewerkschaften sowie allgemeine Bildungskurse.

Im späten 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Arbeiter:innenbildungslandschaft zerstückelt. Neben den Gewerkschaftsschulungen gab es auch die vom Verein Zukunft gegründete Wiener Arbeiterschule und zahlreiche Bildungsangebote der politischen Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden weitere Bildungsmöglichkeiten, wie die Volkshochschulen. Es gab ein umfangreiches Angebot an Vorträgen, Kursen, Funktionärs- und Betriebsräteschulen.

Braucht es Gewerkschaftsschulen?

Der Bildungsfunktionär Richard Wagner fragte in einem Artikel im Jahr 1926 „Braucht es Gewerkschaftsschulen?“ und gab auch gleich die eindeutige Antwort: Ja.

Er hatte erkannt, dass bisher alles nur „Zufallsbildung“ sei und schrieb sie „geht oft so kunterbunt in den Lernenden ein, dass man schon ein tüchtig trainiertes Hirn, einen geübten, ordnenden und gliedernden Verstand braucht, um das beziehungslose Nebeneinander der vielen Eindrücke und Gedanken in fruchtbare Ordnung zu bringen.“

Er schlug stattdessen eine systematische Ausbildung vor und forderte, dass an Stelle der Tradition Wissenschaft treten müsse. Die jungen Gewerkschafter:innen sollten alle geistigen Werkzeuge erhalten, um Kampf- und Organisationsarbeit leisten zu können. Wagner legte auch gleich einen Vorschlag zur Ausgestaltung der Gewerkschaftsschule vor, die dreijährige Ausbildung sollte von der Wissensvermittlung zur selbstständigen geistigen Arbeit unter Anleitung aufsteigen[1].

Die Eröffnung der ersten Gewerkschaftsschule

Ende November 1926 war es so weit, der erste Lehrgang der Wiener Gewerkschaftsschule begann. Der Kern der Schulung war die wirtschaftliche, sozialpolitische und gewerkschaftliche Wissensbildung in Form von Vorträgen. Mit Übungen und Veranstaltungen wurde das Gelernte vertieft. Dazu kamen noch schriftliche Hausarbeiten über erlebnisnahe Themen als Konzentrations- und Aufsatzübung so wie wissenschaftliche Führungen und eine Studienreise durch Österreich[1].

Dies waren hohe Anforderungen an die jungen Gewerkschafter:innen und das resultierte in hohen  Ausfallsquoten. Trotzdem hatten bis zum Jahr 1933 bereits 90 Schüler:innen ihr Abschlusszertifikat erhalten[2].

Das Wiederauferstehen der Gewerkschaftsschulen

Mit dem Verbot der Freien Gewerkschaften nach den Februarkämpfen 1934 mussten auch die Gewerkschaftsschulen schließen. Aber kaum waren der Austrofaschismus und der Zweite Weltkrieg überstanden, nahm Franz Senghofer die Bildungsarbeit im ÖGB Ende 1945 neuerlich auf.

Bald gab es wieder Internatsschulungen und Zentralkurse und ab dem 10. Oktober 1947 auch die Wiener Gewerkschaftsschule. Prominente Vortragende unterrichteten die Schüler:innen etwa in Fremdsprachen, Allgemeinwissen, Arbeitsrecht oder Gewerkschaftskunde. Dazu gab es aktuelle Abende und auch wieder die Studienreisen. Das Ziel war, ein gründliches Elementarwissen zu vermitteln und somit den Teilnehmenden das Rüstzeug für ihre Aufgaben als Arbeitnehmervertreter:innen zu geben.

Bald darauf wurden auch Gewerkschaftsschulen in den Bundesländern gegründet: 1949 in der Steiermark, 1962 in Niederösterreich, 1963 in Oberösterreich, 1964 in Kärnten und 1974 in Salzburg.

Demokratie, Gleichberechtigung und globales Handeln

Die Inhalte, die Methodik und die Didaktik änderten sich über die Jahre. Der Fokus lag in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf der Vermittlung der Werte der Demokratie. In den 1960er-Jahren war eines der Hauptthemen das betriebliche Mitspracherecht und in den 1970er-Jahren kamen internationale Inhalte dazu.

Mit der ersten Frau als Leiterin des Referats der ÖGB-Bildung, Irmgard Schmidleithner, standen erstmals Frauenthemen am Stundenplan: Gleichberechtigung, Partnerschaft und Arbeitswelt oder die Frau in der Arbeitswelt.

Seither sind eine Vielzahl von neuen Themen dazugekommen, wie praktische Gewerkschaftsarbeit, Präsentationstechnik, Persönlichkeitstraining, Integration, Antidiskriminierung, Gender-Mainstreaming oder globales Handeln.

Moderne Wissensvermittlung

Aber nicht nur die Unterrichtsgegenstände veränderten sich, sondern auch deren Vermittlung. Statt alleinigem Lernen wurden Gruppenarbeiten verstärkt, statt Frontalvorträgen gab es partizipative Vermittlungsmethoden, statt möglichst viel zu lernen wurde nun exemplarisch gelernt.

Zwischen 2018 und 2019 kam es abermals zu einer Neuausrichtung. Seither wird verstärkt auf praxisnahes Lernen gesetzt. Dies bedeutet, die Erfahrungen der Teilnehmenden werden aktiv in die Lerneinheiten geholt und diskutiert, es werden Gemeinsamkeiten gefunden und Unterschiede aufgearbeitet.

Mit Sabine Letz übernahm erstmals eine Diplom-Pädagogin die Verantwortung für die gewerkschaftliche Bildung. Unter ihrer Ägide wurde das gewerkschaftliche Bildungssystem und somit auch die Gewerkschaftsschule systematisiert und ein altes Ziel neu definiert: Lebenslanges Lernen. Das Hauptaugenmerk in der Ausbildung liegt seither auf der stärkeren Vermittlung der grundlegenden gewerkschaftlichen Werte: Solidarität, Mitbestimmung, gerechte Verteilung und Intensivierung der politischen Bildung.  

Anmerkung: Nicht explizit angeführte Quellen stammen aus der Broschüre Miteinander voneinander lernen, 70 Jahre Gewerkschaftsschule Wien, ÖGB-Verlag

Quellen:

[1] 150 Jahre ArbeiterInnenbildungsbewegung in Österreich, 2017, S. 13
[1] 150 Jahre ArbeiterInnenbildungsbewegung in Österreich, 2017, S. 13
[2] Arbeiterbildungsverein Gumpendorf, (abgerufen am 05.10.2022)
[3] Die erste Gewerkschafterin. Albertine Moseberg: Die Gründerin des ersten Arbeiterinnen-Bildungsverein, die als „emanzipiertes Weib“ ins Gefängnis musste (abgerufen am 05.10.2022)
[1] Richard Wagner, Brauchen wir eine Gewerkschaftsschule, Arbeit und Wirtschaft, Heft 20, 1926, S. 810-811
[4] 150 Jahre ArbeiterInnenbildungsbewegung in Österreich, 2017, S. 21
[1] Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen, 1927, S. 160
[2] Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen, Sonderbeilage 1933, S. 5

Autorin: Marliese Mendel
Illustrationen: Julia Stern


Nächstes Mal: Ziele der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung

Was möchte gewerkschaftliche Erwachsenenbildung erreichen? Welche Ziele verfolgen Bildungsverantwortliche? Wir haben in Gewerkschaften, bei der Refak und im VÖGB nachgefragt.

Lust auf mehr? Zu allen Folgen der Serie #geb – Gewerkschaftliche Erwachsenenbildung kommst du HIER!

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