#grumo_15: Wie steige ich in einen bereits laufenden Gruppenprozess ein?

Lange haben unsere fünf Expert*innen für die Arbeit mit Gruppen hin und her überlegt, ob das schon vor Monaten vereinbarte Treffen tatsächlich stattfinden soll oder ob sie mal eine Pause einlegen wollen. Der Grund dafür: Alle fünf haben schon seit Längerem mit keinen Gruppen mehr im selben Raum gearbeitet. Alles Online!

„Schon alleine, dass ich jetzt immer dazu sagen muss, ob Präsenz oder Online, damit man sich auskennt, nervt mich total!“, wettert Maria in die Runde. Es hatte sich schlussendlich heraus gestellt, dass die Kolleg*innen den Kontakt miteinander und ihre Treffen nicht missen wollen. Vorab wurden aber – über E-Mail – zwei Dinge vereinbart, die für diesen Termin und bis auf weiteres auch für alle folgenden (Online-)Treffen gelten:
1. Analog zu den Treffen in Lokalen wird jedes Mal eine andere Plattform genutzt, die von einer Person vorgeschlagen und vorher ausprobiert wird.
2. Die Zeit in der über Corona, Homeoffice, Online-Arbeitstreffen und Co gesprochen wird, ist limitiert auf maximal eine halbe Stunde zu Beginn der Treffen.

Paul hat die Kolleg*innen in „seinen“ Raum auf wonder.me eingeladen. Dafür hat er ihnen einen Gastlink geschickt und nun wandern sie in Form von kleinen Kreisen durch den Raum. Zum Ausprobieren führen sie auch Gespräche zu zweit oder zu dritt, was auf dieser Plattform möglich ist, selbst wenn sich alle im selben virtuellen Raum befinden. „Ich bin dafür, dass wir jetzt wieder zusammenkommen“, verlautbart Paul und die Zwiegespräche werden beendet. Bei Rudi klappt es leider nicht so gut, seine Internetverbindung scheint der Datenfülle nicht gewachsen zu sein. Er schreibt in den Chat „Ich schalte Kamera und Mikro erstmal aus und schaue, ob ich zumindest zuhören kann. Wenn ich etwas sagen möchte, schreibe ich es hier im Chat. Okay?“. Die anderen sind einverstanden, obwohl allen, inklusive Rudi, klar ist, dass das keine optimale Lösung ist.

In die Gruppe platzen

„Was war bisher euer schlimmstes Erlebnis, wenn ihr mit Gruppen gearbeitet habt, die schon mitten in einem Gruppenprozess waren?“, leitet Beate ins heutige Thema ein. „Du meinst Lehrgangsgruppen und so, oder?“, fragt Maria nach und bekommt als Antwort, dass es nicht um Teams geht, die ohnehin viel Zeit miteinander verbringen, sondern, wie vermutet, um Gruppen, die beispielsweise im Rahmen von Aus- und Weiterbildung über einen gewissen Zeitraum eine Gemeinschaft bilden und wo gruppendynamische Prozesse häufig stark zu beobachten und zu spüren sind.

„Da muss ich euch unbedingt was erzählen! Ich hatte zu Herbstbeginn einen Workshop mit einer Lehrgangsgruppe und es ist wirklich nicht gut gelaufen! Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber von Anfang an hatte ich das Gefühl, nicht da hinzugehören. Das hat mich total verunsichert und aus dem Konzept gebracht. Ich glaube, so schlecht war ich noch nie! Ich hab schon Bauchweh, wenn ich daran denke, was die Teilnehmer*innen über mich zurückgemeldet haben… Den Auftrag kriege ich nie wieder!“, erzählt Paul so aufgeregt, dass er gebeten wird, den Abstand zum Mikro ein wenig zu vergrößern. Durch die Aufregung hat er manche Buchstaben sehr betont und das erzeugt hässliche Geräusche über das Mikrofon. In weiterer Folge erfahren die Kolleg*innen ein paar Details von Paul und auch Maria und Rudi berichten von ähnlichen Erfahrungen, wenn sie in Gruppenprozesse „reingeplatzt“ sind, zumindest hat es sich manchmal genau so angefühlt.

Die Gruppe retten

Auch Yasemine teilt eine Erfahrung, die sich allerdings deutlich unterscheidet: „Wie ich in den letzten Tagen an unser Treffen gedacht hab‘, ist mir eine Geschichte untergekommen, die schon einige Jahre zurückliegt. Das war auch sehr schräg! Einige der Teilnehmer*innen schienen mir schon nach der Hälfte vom Vormittag zu Füßen zu liegen und das verstärkte sich noch im Laufe der zwei Tage, die wir gemeinsam gearbeitet haben. Ich fand zwar auch, dass ich meine Sache gut machte, aber die Reaktionen kamen mir völlig übertrieben vor und verunsicherten mich, weil ich mir nicht erklären konnte, wodurch sie ausgelöst wurden. Im Nachhinein, erfuhr ich einige Dinge, die mir seither als Erklärung dienen, auch wenn das nur Hypothesen sind.“ Rudi ist neugierig geworden und schreibt im Chat, dass er gerne mehr darüber wissen will, was Yasemine im Nachhinein erfahren hat. Um Rudis Teilnahme ein wenig gleichberechtigter zu gestalten, schreibt Yasemine ihre Antwort ebenfalls in den Chat und für die nächsten Minuten findet der Austausch ausschließlich dort statt.

Im Chat

Yasemine schreibt: Ich habe erfahren, dass die Kolleg*innen, die die ersten beiden Module des Lehrgangs gestaltet hatten, eine völlig andere Arbeitsweise hatten. Die Teilnehmer*innen hatten sie als ziemlich autoritär erlebt. Es hatte bisher keinen Raum gegeben, die Bedürfnisse und Erwartungen der Teilnehmer*innen zu besprechen. Außerdem wurde viel bewertet und die Angst, nicht gut genug zu sein, hatte sich in der Gruppe ausgebreitet. Obwohl „mein“ Modul schon das dritte war, hatte es noch kein Treffen mit der Lehrgangsleitung gegeben. Das hätte zu Beginn stattfinden sollen, für einen ganzen Tag, und wurde auf Grund der kurzfristigen Erkrankung der Lehrgangsleitung ersatzlos gestrichen. Man hatte angenommen, dass sich die Teilnehmer*innen bei Fragen und Schwierigkeiten schon melden würden und das ein persönliches Kennenlernen im Rahmen von Modul 4 ausreichend wäre.

Rudi schreibt: Ah, da wird mir jetzt auch einiges klarer. Die haben dich irgendwie als Retterin wahrgenommen, oder? Dass der Lehrgang vielleicht doch in einer anderen Atmosphäre und mit einer wertschätzenderen Haltung weitergeht, als die ersten beiden Erfahrungen das vermuten haben lassen. Stimmt’s?

Yasemine: Ja, so ungefähr! Ich steig wieder auf reden um, okay? Das tippen strengt mich an… Sorry! 🙂

Rudi: No prob! 🙂

Auf Grundlage der unterschiedlichen Erfahrungsbeispiele die eingebracht wurden, tragen die fünf Expert*innen nun Punkte zusammen, die sie als wichtig erachten, wenn sie als Referent*in oder Trainer*in in schon laufende Gruppenprozesse einsteigen. Rudi hatte sich bereit erklärt, die wichtigsten Punkte zu protokollieren und mit den anderen zu teilen:

  • Übergaben: Bereits beim Vorgespräch mit der Lehrgangsleitung bzw. den Auftraggeber*innen klären, welche Möglichkeiten der Übergabe es gibt. Häufig geschieht dies durch die Lehrgangsleitung, die in der Kommunikation mit den Trainer*innen ein Bindeglied ist. Auch ein direkter Austausch mit den Kolleg*innen von davor und danach ist sinnvoll. Wichtig dabei ist, darauf zu achten, dass man nicht „zu viele“ Infos bekommt. Daher: Vorab überlegen, welche Infos ich haben möchte bzw. nur die Infos weiter geben, die gewünscht sich. Die Trainer*innen, die als nächstes dran sind, entscheiden, welche Infos wichtig sind.

  • Interesse für Vorgeschichte: Am Beginn der Zusammenarbeit ist es hilfreich, die Teilnehmer*innen auch selbst berichten zu lassen, was davor war. Das hat mehrere Funktionen: Es entsteht auch ein Bild aus der Perspektive der Teilnehmer*innen. Ich zeige Interesse (= Wertschätzung) sowohl für das, was bereits war, als auch für die Perspektive der Teilnehmer*innen. Außerdem bekomme ich einen guten Einblick in die Gruppenatmosphäre während des Erzähl-Vorganges.

  • Klarheit über die Rolle: Wie immer ist auch hier hilfreich: Klarheit haben über die eigene Rolle. In diesem Fall eher Besucher*in, was den Gruppenprozess angeht. Metaphorisch gesprochen: Besucher*innen verändern normalerweise nicht die Einrichtung oder bestimmen, wann gegessen wird, Anpassung an bereits vereinbarte Regeln ist erwünscht. Gleichzeitig können natürlich auch Speisen höflich abgelehnt und Gesprächsthemen (mit-)ausgewählt werden.

  • Wertschätzung für andere Stile & Schwerpunkte: Es ist wichtig, die Art und Weise, wie andere Trainer*innen und Referent*innen „ihren“ Teil gestalten, stehen lassen zu können. Vorsicht bei negativen Bewertungen vor der Gruppe á la „Was? So hätte ich das nie gemacht!“ oder „Das war noch kein Thema bei euch? Das ist ja total fahrlässig!“. Nochmal überlegen, was es genau ist, das emotional so berührt und dann entscheiden, welche Reaktion darauf für die Gruppe und den Gruppenprozess hilfreich und sinnvoll ist. Irritationen können vielleicht auch direkt an die Kolleg*innen oder an die Lehrgangsleitung rückgemeldet werden.

  • Arbeitsfähigkeit hat Vorrang: Es kann durchaus passieren, dass eine Gruppe mit dem vorangegangenen Seminar oder Workshop noch nicht „fertig“ ist und noch Zeit braucht, um Dinge zu besprechen. Es ist gut, dafür Zeit zur Verfügung zu stellen, damit die Teilnehmer*innen sich danach gut in das neue Thema/Modul einfinden können. Manchmal reicht es auch, nur kurz gemeinsam zu schauen, was es braucht und dafür einen Platz zu finden. Besser nicht einfach darüber hinweg gehen und in der Vorbereitung dafür Zeit einplanen sowie aktiv nachfragen, ob noch was über ist vom letzten Mal.

„Wow, das ist ja fantastisch!“, ruft Beate, nachdem sie auf den Link geklickt hat, den Rudi grade in den Chat kopiert hat. Er hatte nämlich während des Austausches gleich auf einer digitalen Pinnwand, namens padlet, mitgeschrieben und so steht sein Protokoll quasi in Echtzeit allen Kolleg*innen zur Verfügung. „Obwohl ich anfangs skeptisch war, bin ich froh, dass du dageblieben bist, trotz der technischen Schwierigkeiten“, meint Paul an Rudi gewandt und fügt noch hinzu: “Hat sich voll ausgezahlt, finde ich. Ich hoffe auch für dich!“. Rudi bejaht die Frage und schreibt weiters, dass er es mit der ganzen Technik in den letzten Monaten schon gewohnt ist, auf „Notfälle“ zu reagieren und auch viel dazu gelernt hat. „Dann lasst das doch gleich das Thema für unser nächstes Treffen sein: Was sind gute Notfallpläne, wenn ich einmal gar nicht weiter weiß?“, schlägt Maria vor. Alle sind einverstanden und verabschieden sich nach und nach aus dem virtuellen Raum.

Autorinnen: Gerda Kolb und Irene Zavarsky

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