Distance Learning gibt es in der gewerkschaftlichen Bildung seit dem vorigen Jahrhundert. Damals hieß das „Briefschule“. In diesem zweiten Teil der Serie über Bildungsformate erinnert sich die Historikerin Brigitte Pellar, wie Bücherkoffer, Briefschulen und Fernsehsendungen gewerkschaftspolitisches Wissen in die Betriebe und auf den Frühstückstisch brachten.
Brigitte, die Briefschule war der Vorläufer des sogenannten Distance Learning. Erklärst du uns kurz das Konzept dahinter?
Brigitte Pellar: Die Briefschule war ein reines Selbstlernkonzept und damit völlig ortsunabhängig. Dafür verschickte der ÖGB Skripten zu unterschiedlichen Themen mit der Post, etwa zu Grundlagen im Arbeitsrecht oder im Urlaubsrecht. Betriebsrät:innen beantworteten die Wissensfragen im Skriptum und erhielten darauf Feedback von den Autor:innen.
Warum setzte gewerkschaftliche Bildung auf ein Fernlernkonzept, wo es doch schon Gewerkschaftsschulen gab?
Brigitte Pellar: Weil viele, die die Gewerkschaftsschule besuchen wollten, keine Möglichkeit dazu hatten. Das Recht der Betriebsräte auf Bildungsfreistellung ist erst seit den 1970er Jahren vollständig im Arbeitsrecht verankert. Hinzu kommt, dass Betriebsrät:innen in den Augen mancher Kolleg:innen als faule Hunde galten, wenn sie sich „schöne Zeiten“ auf Kursen machten. Viele wogen daher gut ab, ob sie die Bildungsfreistellung überhaupt in Anspruch nehmen sollten.
Das führte zur Überlegung: Wie können Betriebrät:innen in den Bundesländern, in schwierigen Branchen sowie in Betrieben erreicht werden, wo eine Seminarteilnahme für sie schwierig war? Intention der Briefschule war daher, gleichwertig zur Gewerkschaftsschule eine ortsunabhängige Fernlehre zu schaffen.
Die Briefschule gibt es seit 1956. Heute allerdings nicht mehr als eigenständige Fernlehre, sondern als begleitendes Nachschlagewerk. Haben sich die inhaltlichen Konzepte im Laufe der Zeit verändert?
Brigitte Pellar: Die Rolle der Skripten hat sich ab den 1980er Jahren stark verändert. Sie sind technokratischer geworden. Der gesellschaftspolitische Diskurs ist in den Hintergrund getreten zugunsten mehr praktischer Betriebsratsarbeit und Rhetorik.
Auch heute ist das ein großes Problem in der gewerkschaftlichen Wissensvermittlung: Praktische Betriebsratsarbeit und Gesellschaftspolitik werden als getrennte Gebiete behandelt. Es sind aber zwei Seiten der selben Medaille. Gesellschaftspolitik ist eine Querschnittsmaterie und sollte auch als solche vermittelt werden. Dafür hat schon Richard Wagner, Gründer der Gewerkschaftsschule, sinngemäß plädiert: „Interessenpolitische Bildung sollte so vermittelt werden, dass klar wird, wie wichtig die Zusammenhänge sind.“
Anmerkung: Aus der Briefschule wurden die VÖGB-Skripten, die Gewerkschaftsmitglieder hier kostenlos herunterladen können: → VÖGB-Skripten. Heute begleiten die Skripten gewerkschaftliche Bildungsangebote – zur Nachlese, aber auch als Quelle für Referent:innen.
Wie die Skriptenbank für die Briefschule war auch die Wanderbücherei ein Kooperationsprojekt von ÖGB und Arbeiterkammer. Du hast noch in den 1990er Jahren als Mitarbeiterin der AK-Bildungsdirektion an der Bestückung der Bücherkoffer mitgewirkt. Was war der Zweck dieser Wanderbüchereien?
Brigitte Pellar: Seit 1957 konnten Wiener Betriebsrät:innen und Personalvertretungen die Wanderbücherei bestellen – ein Bücherkoffer bestückt mit 100 bis 120 Büchern. Die Arbeitnehmer:innen konnten im Betrieb, über den Betriebsrat, diese Bücher ausleihen. Die Bücherkoffer sind von Betrieb zu Betrieb gewandert. Nach ca. 1,5 Jahren haben wir die Bücher umbestückt. Die Wanderbücherei war ein Angebot für kleine Betriebe oder Standorte, die sich keine eigene Betriebsbücherei leisten konnten, sehr beliebt war sie zum Beispiel in den Remisen der Straßenbahner.
Die Bücher waren also für die Arbeitnehmer:innen in den Betrieben, gar nicht für Betriebsrät:innen?
Brigitte Pellar: Ja, die Bücher waren zunächst für die Belegschaft gedacht. Betriebsräte haben den Lesestoff vermittelt und konnten so einfach und regelmäßig Kontakt zu Mitgliedern halten. Mitglieder wiederum haben von diesem Leseangebot profitiert. In den Anfangsjahren hatte Lesen eine ganz andere Funktion. Nur wenige besaßen einen Fernseher und es gab ja nur wenige Fernsehprogramme. Lesen war ein Teil der Freizeitgestaltung.
Womit habt ihr die Bücherkoffer bestückt?
Brigitte Pellar: Zuerst standen Sachbücher zu den verschiedensten Wissensgebieten im Vordergrund, später wurde fast nur mehr Belletristik angeboten. Bei der Belletristik haben wir uns gut überlegt, welche wir auswählen. Die Inhalte sollten niederschwellig sein, aber antidemokratische Haltungen oder Gewaltverherrlichung nicht unterstützen. Deshalb waren zum Beispiel die in dieser Hinsicht unbedenklichen beliebten Weltkriegs- und Nachkriegsromane von Johann Mario Simmel dabei, während die noch beliebteren Landser- und Abenteuerromane von Heinz G. Konsalik trotz Nachfrage nicht aufgenommen wurden. Simmel hat in seinen Romanen sehr niederschwellig Gesellschaftskritik mittransportiert und das konnte durchaus auch zum Nach- und Mitdenken anregen.
In der letzten Phase der Bücherkoffer, in den 1990er Jahren, haben wir etwas Neues probiert: Zusätzlich zur Belletristik und zu vereinzelten Sachbüchern zum Entlehnen haben wir auch Infomaterial für Betriebsräte mitgeschickt, das sie behalten konnten, etwa einen Überblick über Sozialleistungen, rechtliche Kommentare oder Information zu gewerkschaftspolitischen Themen. Unser Gedanke dahinter: Betriebsratsmitgliedern, die nicht die Gewerkschaftsschule besuchen konnten, neben der Briefschule ein weiteres Bildungsservice zu bieten.
Welche Bildungsformate waren noch wichtig, die es heute nicht mehr gibt?
Brigitte Pellar: Ganz wichtig waren die Belangsendungen im Radio und im Fernsehen. Bis zur Liberalisierung des ORF hatten ÖGB und Arbeiterkammer abwechselnd mit anderen Interessenvertretungen und den Parteien um sechs Uhr morgens eine eigene kurze Belangsendung im Radio, später auch im Fernsehen. Damit gelang es, viele Menschen beim Frühstück direkt zu erreichen, zum Beispiel mit Informationen aus dem Konsumentenschutz der Arbeiterkammer.
Vielen Dank, Brigitte!
Brigitte Pellar war stets nah dran an der Wissensvermittlung für Betriebsrät:innen. Im ÖGB-Verlag war sie viele Jahre für die methodisch-didaktische Gestaltung der Briefschul-Skripten verantwortlich, bei etlichen arbeitete sie auch als Autorin mit. In der Arbeiterkammer war sie unter anderem zusammen mit den Kolleg:innen von der ÖGB-Büchereiabteilung für die Bestückung der Bücherkoffer verantwortlich und Mitglied des Redaktionskomitees von „Arbeit&Wirtschaft“. Von 2001 bis 2007 leitete sie das Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte (heute Institut für historische Sozialforschung/IHSF), eine gemeinsame Einrichtung von Arbeiterkammer und ÖGB.
Interview: Irene Steindl
Illustrationen: Julia Stern
Wohin geht die Reise? Was steht in der Betriebsratsarbeit an?
Mit welchen Herausforderungen im Betrieb sind Betriebsrät:innen derzeit konfrontiert und wie trägt gewerkschaftliche Bildung dazu bei, diese zu bewältigen? Wir haben Betriebsrät:innen aus unterschiedlichen Branchen befragt.
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