Demokratielernen in Europa
Helmut F. war einer der bekanntesten Haftinsassen Österreichs. Seine Geschichte hat auch einen europapolitischen Bezug:
Helmut F.
In den 1980er-Jahren war Helmut F. ein beliebter Moderator im ORF. Später machte er sich als Produzent und Regisseur selbstständig. Er bestach in den 1990er-Jahren österreichische Beamtinnen. Als einer seiner Branchen-Kolleginnen, Fritz Köberl, dahinterkam und drohte, Helmut F. wegen Korruption anzuzeigen, wurde Köberl von Helmut F. brutal ermordet. Helmut F. wurde im Februar 1993 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Für Helmut F. bedeutete das Urteil, wie für alle österreichischen Staatsbürgerinnen, die mehr als eine einjährige Freiheitsstrafe verbüßten, das Wahlrecht zu verlieren. Zur Nationalratswahl 2002 schien er nicht in der Wählerevidenz auf. Daraufhin entschloss sich Helmut F. vom Gefängnis aus, den Staat Österreich gegen diese rechtliche Bestimmung zu klagen. Im Jahr 2010 schließlich bekam er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht: Das österreichische Wahlrecht war im angezeigten Paragrafen menschenrechtswidrig und musste innerhalb weniger Monate repariert werden. Nur weil jemand straffällig wird, darf er nicht automatisch sein Wahlrecht verlieren. Seit dem Fall von Helmut F. werden Haftinsassinnen nicht per se wegen ihrer Straftat vom Wahlrecht ausgeschlossen, sondern nur dann, wenn ein Richter oder eine Richterin dies dezidiert als Teil der Strafe anordnet.
Europa im Alltag
Die Geschichte von Helmut F. zeigt uns eine relevante Herausforderung von europapolitischen Bildungsprozessen: Die Tatsache, dass europapolitische Akteur:innen nationale Politik mitprägen, macht Politik komplexer, oft langwieriger und im besten Fall aber auch gerechter.
Zentral für Europapolitik sind eine Reihe von politischen Akteur:innen, wie der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EUGH), die Europäische Kommission, der Rat der Europäischen Union oder das europäische Parlament. Dessen Mitglieder werden übrigens in wenigen Wochen, in Österreich am 9. Juni 2024, gewählt. Europapolitische Bildung bzw. europäische Politik ist auch deshalb so komplex, weil all diese Institutionen unterschiedliche Entstehungsgeschichten haben, unterschiedliche europäische Länder repräsentieren und auf unterschiedliche Art, etwa durch Einstimmigkeit, durch Mehrheiten oder qualifizierte Mehrheiten, zu ihren Entscheidungen kommen.
Auch deshalb erscheint vielen Menschen „die EU“ als abstraktes politisches Gebilde, das – Achtung Falschnachricht – wenig mit dem eigenen Alltag zu tun hat.
Europapolitische Bildung in der Praxis
Gerade deshalb erscheinen uns drei Formen der europapolitischen Bildung von besonderer Bedeutung, die da lauten:
- Auseinandersetzung mit europäischer Geschichte
- Auseinandersetzung mit grundlegenden europäischen und demokratiepolitischen Werten (Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Frieden, kulturelle Vielfalt etc.)
- Aufzeigen der Relevanz von europapolitischen Entscheidungen auf den eigenen Alltag
Die europäischen Institutionen können nicht ohne Wissen um europäische Geschichte und hier insbesondere ohne die Erfahrung von Nationalsozialismus und den beiden Weltkriegen gedacht werden. Sie wurden zur Sicherung von Frieden und auch zur Verhinderung eines weiteren Krieges auf europäischem Boden geschaffen. Mit der Erfahrung des Holocausts und der Ermordung von großen Teilen der europäischen Bevölkerung wurde ab 1945 versucht, rechtsstaatliche Prinzipien in den europäischen Ländern zu stärken und auf die Einhaltung und praktische Umsetzung von Menschenrechten zu achten. Nicht umsonst ist ein europäischer Pass auch mit vielfältigen Rechten verbunden, etwa auch der Möglichkeit, seine Rechte bis vor einem europäischen Gerichtshof einzuklagen, selbst wenn man ein wegen Mordes verurteilter Straftäter ist.
Pfandflaschen: Wir schaffen das!
„80 Prozent der österreichischen Gesetze haben ihren Ursprung in Europa“ ist ein bekannter Satz, der natürlich nicht nur für Österreich gilt. Ein aktuelles Beispiel: Du hast vielleicht bemerkt, dass viele österreichische Supermärkte beginnen, neue Pfandflaschenautomaten aufzustellen. Der Grund dafür ist, dass es in Österreich ab 2025 ein neues Pfandsystem für Getränkedosen und Plastikflaschen geben wird. Zwar kommt das Gesetz von der österreichischen Regierung, der Impuls, ein neues Gesetz zu verabschieden, kommt aber von einer bestimmten Recyclingquote, die alle EU-Mitgliedsländer bis ins Jahr 2030 erreichen sollen und die Österreich ohne verbessertes Pfandsystem wahrscheinlich nicht schaffen wird. Dieses Pfand-Beispiel und auch die Geschichte von Helmut F. am Beginn stehen prototypisch dafür, wie nationale und europäische Politik ineinandergreifen und sich wechselseitig beeinflussen.
Diese Verschränkung von nationaler und europäischer Politik kann und soll man auch kritisch diskutieren und sich fragen, wie nationale und europäische Politik in Zukunft aussehen soll und was sich dadurch in unserem Alltag konkret verändern würde: Im Leben von Helmut F., im Leben der Plastikflaschen und im Leben von uns allen.
Praktische Anregungen
- Aufgabenstellung: Lasse deine Zielgruppe zunächst 5 bis 10 Alltagsgegenstände (Handy, Getränkeflasche, Schokoriegel) auswählen. Teile die Gegenstände je einer Kleingruppe zu. Die Aufgabe der Teilnehmenden ist nun, mittels Internetrecherche Bezüge des gewählten Gegenstands zur EU bzw. zu Europapolitik zu finden.
- Reflexion: Stelle den Teilnehmenden folgende Frage: „Was sind grundlegende europäische Werte?“ Sammle Ideen im Plenum und starte dadurch eine Diskussion. Anschließend kannst du nachfragen, wie jede:r einen Beitrag dazu leisten kann, dass diese Werte unsere Gesellschaft zum Positiven verändern.
Am nächsten demokratischen Montag…
…setzen die Kolleg:innen von Sapere Aude fort und geben einen Einblick in das Wahlrecht und wie sich dieses auf die Möglichkeiten zur Mitbestimmung in unserer Gesellschaft auswirkt.
Autor: Patrick Danter von Sapere Aude
Weiterführende Links:
- Handreichung „Europa mitgestalten“: Sammlung von methodischen Ideen zu Politischer Bildung und der Europäischen Union.
- Europa: Bundeszentrale für politische Bildung
- Euronews: Wie viel Einfluss hat die EU auf unsere Gesetzgebung?
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