#thedi: Können wir Anderes denken?

Gedanken zu Utopie, Bildung und Solidarität

Abb.: Wien, S.V.

„Eine Weltkarte, in der Utopia nicht verzeichnet ist, ist keines Blickes wert, denn sie unterschlägt die Küste, an der die Menschheit ewig landen wird.“
Oscar Wilde, Der Sozialismus und die Seele des Menschen, S.38.

Ist eine Utopie mehr als ein erträumtes Fantasiegebilde, das tröstet in einer Welt, die keine Alternative mehr kennt? Oder ist es tatsächlich so, dass wer Visionen hat, diese ärztlich untersuchen lassen sollte? In einer Zeit des radikalen Sich-Abfindens und der Alternativenlosigkeit scheint es so.

Eine bessere Welt?

Können wir eine bessere Welt denken oder lernen dies zu tun? Können wir eine bessere Welt denken, ohne nur die Bestehende zu verklären? Können wir über das Bestehende hinausdenken und entsprechend handeln? Hinausdenken über eine Welt, in der Wirtschaftsstandort, 12-Stunden-Tag, Burkaverbot und Sicherungshaft – also die Inhaftnahme juristisch schuldloser Menschen – pragmatisch akzeptiert werden und weder erschrecken noch gruseln, sondern nur als „schmerzhafter Kompromiss“ bezeichnet werden. Wie weit gehen die Kompromisse?

Wie können wir verlernen, Egoismus, Konkurrenz und Kapitalismus immer mit-zu denken oder nie zu übersehen? Und können wir radikale Alternativen abseits von ein bisschen weniger Autofahren, um des Klimaschutzes willen, oder von Bio-Essen an Schulen oder verantwortungsvoll konsumieren noch denken? Können wir uns als Nicht-KonsumentInnen, als Nicht-AutofahrerInnen, als Nicht-ArbeitNEHMERinnen, als nicht Wirtschafts-Versteherinnen überhaupt noch denken?

Wut?
Und was ist mit der Empörung und Wut über Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit? Wird unsere Wut oder die Wut anderer noch sichtbar, wird Protest artikuliert und gehört? Und gegen wen richten sie sich? Wie geht die Wut und auch die Solidarität nicht unter, in Sorgen wie der französische Streik könnte das Weihnachtsfest der Familien gefährden oder den Klimaschutz und den Wirtschaftsstandort? Sind erkämpfte ArbeiterInnenrechte wirklich nur Privilegien? Privilegien-Rittertum oder Goldplating nennen NEOS und der Boulevard in Bausch und Bogen soziale Sicherheit ebenso wie Korruption… Und die anderen Parteien sind von dieser Einschätzung oft auch nicht soweit entfernt.

Verlernen wir den Kapitalismus!

Gayatri Spivak – eine US-amerikanische Literaturwissenschafterin und Basisbildnerin – nennt das Verlernen dessen, was allen normal erscheint – den Profit, die Ausbeutung, die Unterdrückung der Frauen – eine Arbeit an der Vorstellungskraft und einer Erweiterung der Imagination. Unsere Vorstellungskraft wird durch hegemoniale Verhältnisse, Erfahrungen des Arbeitsalltags und scheinbare wirtschaftliche Notwendigkeiten eingeschränkt… jeden Tag und immer wieder…. bis uns Ausbeutung, Egoismus und Ungerechtigkeit als normal erscheinen.
Verlernen können wir dies in solidarischen Lernprozessen, in Erfahrungen der alltäglichen politischen Kämpfe um bessere Arbeitsbedingungen, um gleiche Rechte um Meinungsfreiheit …. so diese Kämpfe und Verhandlungen noch geführt werden.

Solidarisches Bewusstsein und eine erweiterte Vorstellungskraft, also Utopie-Fähigkeit, entsteht in der politischen Aktion, im Tun und diese politische Aktion darf nicht durch Angst vor Verlust des bereits Erkämpften niedergehalten werden. Menschen haben das Vermögen, durch gemeinsames Handeln ihre Ohnmacht und Unterdrückung zu überwinden. „Tausend Probleme. Nur Erfahrung  ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu öffnen, Nur ungehemmtes schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe…“ (Rosa Luxemburg 1968, S.135)

Zum Weiterlesen

  • Oskar Negt: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung, Frankfurt 1971.
  • Oscar Wilde: Des Menschen Seele im Sozialismus, Coesfeld 2019.
  • María do Mar Castro Varela: Strategisches Lernen
  • Gayatri Chakravorty Spivak: Righting Wrongs – Unrecht richten, Zürich/Berlin 2012.
  • Rosa Luxemburg, Politische Schriften III, Frankfurt 1968, S. 135

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Autor: Stefan Vater

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