Raus aus der Schule! Arbeiterjungen und ihr Spaß am Widerstand gegen Bildung.
Paul Willis – ein britischer Soziologe – führte Ende der 1970er Jahre in einer Schule in Großbritannien eine mehrjährige, teilnehmende Beobachtung einer Gruppe von Arbeiterjungen, die, sagen wir, nicht sehr gute Schüler waren durch. In seinem Buch „Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule“ zeichnete er als Ergebnis ein auch positives und nicht einfach moralisch abwertendes Bild dieser aufsässigen und schlechten Schüler – die Reaktionen der Fachkollegen und BildungspolitikerInnen darauf waren teils empört, da werde schulischer Vandalismus zum legitimen und noch dazu als kreativ bezeichneten Ausdruck von Resistenz gegen Unterdrückung und Chancenungleichheit stilisiert. Willis Studie stand den auch damals aktuellen Medienberichten über Gewalt an Schulen entgegen, die diese Gewalt nur individuell oder in zerbrochenen Elternbeziehungen verorteten, als einen Verfall von Kultur sozusagen.
Vorausgeschickt werden sollte wohl noch ein Hinweis: Der Thatcherismus mit seiner grundlegenden, zerstörerischen Umstrukturierung der britischen Gesellschaft stand Großbritannien noch bevor, die Gewerkschaften waren noch intakt und auch ArbeiterInnen gab es noch, die diese Bezeichnung nicht als Beleidigung empfanden.
Willis beobachtete in seiner Studie junge Männer aus dem ArbeiterInnenmilieu in den Westmidlands bei ihrem Schulbesuch und in ihrer Freizeit, die Stadt nannte er Hammertown. Junge Männer, deren Väter im wesentlichen anstrengende körperliche Arbeit verrichten. Die Jungen sind neben den spezifischen Praxen und Werten dieses ArbeiterInnen-Milieus, wie Solidarität, auch durch einen tiefen Sexismus und Machismus, ein Schwerarbeiter-Arbeitsethos sowie eine ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit gekennzeichnet. Dennoch erscheinen die Jugendlichen in Willis Studie erstaunlicherweise sympathisch und ihre meist spaßigen Schulgeschichten, die von Nichtanerkennung der schulischen Autorität und auch Infragestellung der Nützlichkeit der Schule geprägt sind, wirken nachvollziehbar.
Willis beschreibt die Situation von Jugendlichen, die vorhaben, nach der Pflichtschulzeit aus dem Schulbetrieb auszuscheiden und die mit großer Wahrscheinlichkeit damit rechnen müssen, ähnliche Tätigkeiten wie ihre Väter zu verrichten – Schwerarbeit, in Stahlwerken, Kohlegruben oder wo auch immer. Und da gilt es anzupacken, wenn es nötig ist, so die Jungen – das Arbeitsethos ist nicht auf Ausbildung bezogen, sondern lediglich darauf, harte Arbeit leisten zu können.
Lernen fürs Leben
Die Jugendlichen unterwandern den Lehrplan, entwickeln eigene Lernziele und beschreiben die Lernerfahrungen beim Schwänzen, Schwatzen und Lehrer-Verarschen als „wirkliches Lernen“. Das auf diese Art erarbeitete Wissen schätzen sie als Wissen ein, das bei ihrem erwartbaren und auch von ihnen erwarteten oder sogar gewollten Verbleib im Arbeitermilieu als wirklich brauchbar sein wird, im Gegensatz zum Schulwissen. Erwartbar deshalb, weil die Aufstiegsversprechungen der Sozialdemokratie sich als unhaltbar erwiesen haben, zumindest für die Gruppe als Kollektiv oder auch für den Einzelnen ohne ein Akkulturierung ins Milieu der Mittelschicht zu durchlaufen. Ein eventueller Aufstieg über Schul-Bildung ist also erstens unwahrscheinlich und würde zweitens die Notwendigkeit bedeuten, das eigene Lebensumfeld, Milieu zu verlassen – und diese Herausbewegung aus der eigenen Kultur ist nicht die einzige Idee von Karriere, die denkbar ist.
Die Jungen sind kreativ, wenn es darum geht, die symbolische Ordnung der Schule zu unterlaufen – eine Mittelschichtordnung, hoch aufgeladen mit Sendungsbewusstsein der eigenen Wertigkeit. Sie setzen sich kollektiv der Schuldisziplin entgegen, ärgern LehrerInnen und eignen sich eine Autonomie an, deren zentrale Elemente Gruppensolidarität, der starke männliche Arbeiterkörper, ein Arbeitsethos und das Bewusstsein hier (in den schulischen Kontext) nicht herzugehören sind, sowie der Wunsch, endlich mal etwas Brauchbares zu lernen, das die Schule aber in keiner Weise bieten kann und bestenfalls in den Reibungen mit der Institution gelernt werden kann.
Paul Willis: Was ist eure Meinung, welche Qualifikation braucht ihr?
Fuzz: Qualifikationen und der ganze Quatsch, brauchste nicht, du fragst nach ´nem Job, und sie geben ´nen Job
(Willis 1982, 145)
So bemühen sich die Jugendlichen in Willis Studie, die Schule baldest möglich zu verlassen und handeln so gar nicht dem Slogan der europäischen Arbeiterbewegung folgend, dass Wissen Macht sei. Zumindest bezogen auf Schulwissen, und die spezifische Form der Vermittlung desselben.
Sie artikulieren und praktizieren eine Gegen-Schulkultur, indem sie das formelle System geschickt umgehen und seine Forderungen auf das absolute Minimum beschränken, durch Unterlaufen des Stundenplans, Mobilität und Angriffe auf den offiziellen, schulischen Zeitbegriff. Zeit ist nicht etwas, womit sorgfältig umgegangen werden muss, Zeit wird beansprucht. Wildes Lachen ist Bestandteil eines respektlosen, karnevalistischen Fehlverhaltens.
Joey: Ich glaube Lachen ist verdammt das Wichtigste bei allen Dingen. Nichts kann mich daran hindern zu lachen (…) (Willis 1982, 52)
Ich weiß, dass ich dumm bin; da ist es nur fair und richtig, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringe, in einer Autofabrik Schrauben in Felgen zu drehen. (Willis 1982, 11)
In einer gewissen Weise akzeptieren und wählen die Jungen aus Willis Studie ihr eigenes Schicksal und wirken damit an der Reproduktion einer Gesellschaft ungleicher Chancen mit, andererseits bewahren sie die Kultur ihrer Herkunft und ihre Würde. Denn wenn dem bildungsbürgerlichen Glauben an die individuellen Aufstiegsmöglichkeiten durch die Schule gefolgt wird, liegt in der Ablehnung der Schule die Zerstörung der individuellen Chancen.
Die Schule ist ein soziales Sieb, das einerseits die Anerkennung einer individualisierten und als gerecht getarnten, angeblich der Begabung folgenden Selektion ermöglicht, das aber auf der anderen Seite Widerstand provoziert. Die Schule sichert die Reproduktion der Gesellschaft – auch über den Glauben der AkteurInnen – und erstaunlicherweise ändert sie wenig an Privilegien und Reichtümern aller Arten. Die Schule verteilt die sozialen Chancen kaum um.
Zum Weiterlesen
- Paul Willis: Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule, Frankfurt 1982
- Waltraud Kannonier-Finster, Meinrad Ziegler (Hg.): Ohne Filter. Arbeit und Kulutr in der Tabakfabrik Linz, Innsbruck-Wien-Bozen 2012
- Ingolf Erler: Die Illusion der Chancengleichheit. In: Ingolf Erler (Hg.): Keine Chance für Lisa Simpson? Soziale Ungleichheit im Bildungssystem, Wien 2007
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Autor: Stefan Vater
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