„Getrieben vom Gewinnstreben der eigenen Volkswirtschaft vernachlässigen Gesellschaften und ihre Bildungssysteme genau die Fähigkeiten, die benötigt werden, um Demokratien lebendig zu halten. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, werden die Nationen überall auf der Welt bald Generationen von nützlichen Maschinen produzieren statt allseits entwickelter Bürger, die selbständig denken, Kritik an Traditionen üben und den Stellenwert der Leiden und Leistungen anderer Menschen begreifen können. Die Zukunft der Demokratie steht weltweit auf der Kippe.„
Martha Nussbaum, Nicht für den Profit, S. 16
Im ORF lief von 1976 bis 1995 – über zwei Jahrzehnte – einmal die Woche die spätabendliche Diskussionssendung „Club 2“ zu breit gemischten, aktuellen, kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Themen wie Jugendgewalt, Umweltverschmutzung, HIV, Parsifal, Punk usw. Das aus heutiger Sicht Beeindruckende oder sogar obszön Wirkende war die Möglichkeit, für verschiedenste Gruppen der Bevölkerung, mitzudiskutieren. Im Club 2 saßen ExpertInnen, Betroffene, Belesene, Intellektuelle, LaiInnen, Arbeitende… zusammen und diskutierten bis spät in die Nacht und ohne fixiertes Ende grundsätzlich gleichberechtigt, und der – mehr oder weniger erfolgreiche – Diskussionsverlauf war auch nicht durch die Stoppuhr bestimmt. Welche Demokratie können wir uns vorstellen und wie ist es real um Demokratien in Europa bestellt?
Wir leben in einer Zeit der Ent-Demokratisierung und in einer Zeit, in der es notwendig ist, zu betonen: Demokratie ist nicht nur eine Frage des Bekenntnisses, sie muss gelernt und praktiziert werden, um lebendig zu bleiben.
Was sind die Aufgaben der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung?
Ein Plädoyer für Demokratie.
Die Prinzipien der gemeinnützigen, aufklärungsorientierten oder in der Tradition der ArbeiterInnenbildung stehenden Erwachsenenbildung sind demokratisch und eigentlich nichts anderes als die Prinzipien der (aufgeklärten) Kritikfähigkeit, die Populismus und Entdemokratisierung entgegenwirken. Erwachsenenbildung dieser Art bildet die Kompetenz, sich eine eigene Meinung zu bilden und darüber solidarisch zu streiten. Die Fähigkeit, Verkürzungen und Schnellschlüssen zu misstrauen und sich mit anderen streitbar über die eigenen Zukunftsvorstellungen und deren Realisierbarkeit auseinanderzusetzen. Sie ist die Infragestellung von Gewohntem, die Infragestellung der Brauchbarkeit von Wissen und Bildung, ihrer Angemessenheit, zugunsten von Reflexions- und Lösungsermächtigung.
Das bedeutet eine Praxis, die Wissen nicht versteht als – in Bildern gesprochen – Naturrohstoff, geschürft und vermittelt von ExpertInnen, die alles wissen und meist Männer sind, sondern von Ansätzen, die Bildung und Wissen als ein Arbeitsfeld sehen. Ein demokratisch zu bestimmendes Arbeitsfeld, das durch Demokratie-Lernen – im Sinne von Auseinandersetzung und Mitbestimmung – bestimmt ist und nicht durch scheinbare Naturnotwendigkeiten, Volksinteressen und Sachzwänge. Das erfordert eine lebendige, problemzentrierte Auseinandersetzung mit der Welt und auch der eigenen Umwelt, eine Ermächtigung zu ihrer Veränderung.
Lernen, die Welt zu verändern
Lernen und Lehren wird als engagiert und einen Standpunkt beziehend definiert. Beides ist eine kollektive Praxis, die Freiheit zum Ziel hat. Und damit meinen wir die Freiheit aller sich Bildenden, wohlgemerkt. Sie ist verbunden mit dem Wunsch und dem Verlangen auch Dinge zu verändern und nicht in einer „There is no Alternative“-Welt zu leben. Und sie fördert und fordert Partizipation, die mehr ist, als unverbindliche Beratung für die Politik, mehr als eine partizipative Beschäftigungstheraphie ohne Effekte. Diese Partizipation ermöglicht Demokratie, im Üben von Auseinandersetzung und auch Streit, sowie Konsensfindung, in der Sensibilisierung für Grundprinzipien der Demokratie wie Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung, dies sei auch der österreichischen Regierung ins Stammbuch geschrieben.
Sie steht für Differenzierung, Komplexität und Pluralismus, auch medialen – mehr als die tägliche Wiederholung von Nichtssagendem, Ausgrenzendem oder den Befindlichkeiten der HerausgeberInnen, wie Gratiszeitungen sie oft unter Beweis stellen. Gewerkschaftliche, solidarische Bildung steht gegen Ausgrenzung, für Bescheidenheit in der Erkenntnis der eigenen Grenzen und sie wirkt gegen die Angst, zumal sie auch nicht aus der Angst zurückzubleiben und unzureichend zu sein entsteht.
Zum Weiterlesen
- bell hooks: teaching to transgress. New York /London 1994.
- Belinda Kazeem-Kaminski: Engaged Pedagogy: Antidiskriminatorisches Lehren und Lernen bei bell hooks. Wien 2016.
- Lorenz Lassnigg, Stefan Vater: Demokratielernen. Eine Vielfalt von Fähigkeiten und eine Frage der Übung. Editorial. In: dieselben (Hg.): Magazin erwachsenenbildung.at. Demokratielernen. Eine Vielfalt von Fähigkeitenund eine Frage der Übung. Wien 2016. (PDF, 3,1MB)
- Martha C. Nussbaum: Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen 2012.
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Autor: Stefan Vater
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