„Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“
Astrid Lindgren
Wenn wir an Lernen denken, erinnern viele sich zuerst an erzwungenes Lernen, an „lernen müssen“, an Disziplin und an oft nicht sehr sinnvolle Inhalte und an Lernen von Dingen, die man nicht und niemals lernen wollte.
Das ist vielleicht nicht gut so, verweist aber auf das, was Lernen im Alltag oft bedeutet.
Lernen ist: Wissen in hohle Köpfe füllen?
Lernen hat einen doppelten Charakter: Einerseits ist es die Einpassung von Menschen in unsere Gesellschaft. Wir leben in einer Gesellschaft der Ungleichheit. Eine Gesellschaft, in der Arbeitgeber, LehrerInnen, Chefs etc. ihre Interessen sehr gut durchsetzen können und auch sagen können, was alle lernen müssen. Unser Lernen in der Schule und die Bildung im Bildungssystem reproduzieren diese Ungleichheit, das heißt sie tragen dazu bei, dass sie weiter besteht.
Lernen wird dabei oft verstanden als ein Prozess, bei dem Wissen hohle Köpfe füllt. Lernen wäre dabei ein Prozess des Eintrichterns von unveränderlichem Wissen. Ein Wissen, das für alle gilt und für alle nützlich ist. Egal, ob dieses Wissen dann nur die Geschichte großer Schlachten unter Ausblendung des Leids der Vielen ist, oder die Geschichte großer Männer erzählt, die das und das und das erfunden hätten. Kein Wort über die Geschichte der Arbeitsrechte, die Entwicklung der ArbeiterInnenbewegung.
Lernen: Allein oder gemeinsam?
Wissen und Lernen wird ohne nachzudenken oft verbunden mit Konkurrenz, Begabung, Egoismus und individueller Leistung. Wirtschaftszentrierung, Indoktrination und Fremdenfeindlichkeit dominieren auch die Debatten über Bildung oder simple, sinnentleerte Einschätzungen, wie „Die Gymnasien produzieren oft am Markt vorbei“.
Auf der anderen Seite ist aber Lernen viel mehr. Lernen ist die aktive und gestaltende Auseinandersetzung mit der Welt in der wir leben, ausgehend von unseren Erfahrungen. Wir lernen laufend mit all den anderen, mit denen wir diese Welt teilen und von denen und mit denen wir lernen, diese Umwelt zu gestalten und gemeinsam und solidarisch zu verändern. Zumal Menschen aktive, sich in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt weiterentwickelnde Wesen sind.
Menschen lernen am Arbeitsplatz, zu Hause, am Spielplatz, beim Sport, in Museen oder wenn sie ein Buch lesen. Solches Lernen ist nicht nur der passive Nachvollzug von Feststehendem, das es zu wissen gilt. Es ist ein nicht nur Nach-Denken, sondern ein Neu-Denken, ausgehend von der eigenen Lebensrealität. Lernen ist also auch: die Auseinandersetzung und Gestaltung dieser, der eigenen, Umwelt und dessen was es zu wissen gilt. Beides ist durchzogen von Machteinflüssen und Herrschaftsverhältnissen, die es zu verstehen, zu verändern und gemeinsam zu reflektieren gilt. Genau hier setzt gewerkschaftliche Bildungsarbeit an: Sie will dazu ermächtigen, gemeinsam mit anderen die eigene Lebens- und Arbeitsrealität zu hinterfragen, Machtstrukturen aufzudecken und Alternativen, Forderungen und Utopien zu entwickeln.
Lernen als selbstbestimmter Prozess: der subjektwissenschaftliche Lernansatz
Im selbstbestimmten Lernen stößt die lernende Person in einem Bewusstwerdungsprozess vor dem Lernen von sich aus auf Grenzen in ihrem Handeln. Sie kann sich etwa in einer fremden Sprache nicht verständigen oder kennt nicht die Regelungen bezüglich des 12h-Arbeitstages. Aus diesen Problematiken und Einschränkungen der Handlungsfähigkeit kann Lernen entstehen, wenn die Person aus ihrem eigenen Interesse heraus nun zu einer Lernhandlung übergeht. Ist die Lernschleife erfolgreich vollzogen, hat die lernende Person durch ihre neuen Kenntnisse an Handlungsfähigkeit gewonnen, also expansiv ihre eigenen Handlungsspielräume erweitert.
Diese Vorstellung von Lernen geht vom Eigeninteresse des lernenden Menschen aus. Sie wendet sich gegen die vorherrschenden Motivationstheorien, die eine fremdbestimmte Motivierung als unerlässlich sehen und Lernen oft nur als Defizitbehebung sehen. Expansives Lernen ist nur möglich, wenn der oder die Lernende die Sinnhaftigkeit des Lernziels einsieht und für sich übernimmt.
Wenn wir gewerkschaftliche Bildungsangebote planen oder vorbereiten, gehen wir von genau diesem Lernansatz aus. Wir müssen also immer überlegen: Vor welchen Handlungsproblemen stehen unsere TeilnehmerInnen? Welches Wissen und welche Fähigkeiten brauchen sie, um diese Probleme bewältigen zu können? Wie müssen wir daher Lernangebote gestalten, damit TeilnehmerInnen ihre Handlungsfähigkeit entwickeln und erweitern können?
Zum Weiterlesen
- Bianca Friesenbichler, Paulo Freire (PDF, 966 KB)
- Klaus Holzkamp: Expansives Lernen
- Ein subjektwissenschaftlicher Zugang am Beispiel der Gewerkschaften, Marburg 2016.
Das Buch ist leider vergriffen. - Oskar Negt, Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie und Praxis der Arbeiterbildung, Frankfurt 1971.
Das Buch kann HIER im Webshop des ÖGB-Verlags versandkostenfrei bestellt werden.
Autor: Stefan Vater
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Siehe auch https://wachterblog.wordpress.com/2010/12/10/konzeption-einer-community-fur-experten/