Lernen im öffentlichen Raum
Nach langen Monaten, in denen pandemiebedingt Abstand angesagt war, können wir wieder heraus aus dem Seminarraum. Wir dürfen wieder auf unsere Mitmenschen zugehen. Mit vorbereiteten Fragen zu unserem Lerninhalt interviewen wir Passant*innen. Die Antworten werden ausgewertet. Aktiviert und mobilisiert werden Fragende und Befragte.
Ziele
- Den Lernprozess mit Erfahrungen aus dem öffentlichen Raum anreichern
- Teilnehmer*innen arbeiten durch die Vorbereitung aktiv am Lerninhalt
- Einübung kommunikativer Fähigkeiten
- Befragte werden mit dem Thema konfrontiert
Ein Beispiel: Interviews im Solidaritäts-Seminar
Das Seminar „Solidarität lernen, lehren, erleben“ richtet sich an Referent*innen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. In den Zeiten vor der Pandemie schickten wir die Teilnehmer*innen nach dem Kennenlernen auf die Straße. Sie interviewten Passant*innen zum Thema Solidarität. Die Befragung sollte klären, ob Solidarität als Begriff und Wert im öffentlichen Bewusstsein vorhanden ist.
Das Ergebnis aus der Zeit vor Covid: Erstaunlich vielen Menschen sagt „Solidarität“ schon als Wort nichts oder ganz wenig. Erlebte Solidarität wurde – wenn überhaupt – mit „Hilfe für andere“ beschrieben, so als sei ein Euro für den Bettler schon ein Akt der Solidarität. Diese durch die Interviews gewonnene Erkenntnis prägte die Arbeit am Thema im Seminar. Wie bringen wir Solidarität als Wert in das Bewusstsein von Teilnehmer*innen von Bildungsveranstaltungen? Wie konkretisieren wir Solidarität bei der Gestaltung von Lernprozessen?
In diesem Beispiel wird eine Einsatzmöglichkeit von Interviews deutlich. Durch die Befragung von Menschen (auf der Straße, in oder vor Betrieben, in öffentlichen Verkehrsmitteln…) wird Realität erfasst, wie in einer unsystematischen empirischen Untersuchung. Natürlich hat so ein Interview nicht die Aussagekraft einer umfangreichen wissenschaftlichen Befragung. Für den Lernprozess, an dessen Beginn ein Interview steht, bringt es aber Konkretisierung und Energie.
Damit ist nicht ein abstraktes Konzept Startpunkt der Auseinandersetzung mit dem Thema. Vielmehr wird durch die Befragung von PassantInnen vom konkreten alltäglichen (Un)Verständnis und gelebten Erfahrungen ausgegangen. Auf diese können die fragenden TeilnehmerInnen dann auch in ihrer späteren Praxis treffen. Damit bleiben die weiteren Überlegungen anschlussfähiger an das Alltagsbewusstsein.
In der politischen Bildung gibt es viele vergleichbare Einsatzmöglichkeiten. Aber auch bei Themen wie Arbeitssicherheit oder Arbeitsrecht lässt sich ein Interview einsetzen, um abzuchecken, wie sensibilisiert oder informiert Menschen für ein Thema sind.
Wirkungen von Interviews
Interviews auf der Straße können mehrfach wirken. Die Leute, die die Fragen stellen, müssen sich aktiv und genau mit dem Inhalt auseinandersetzen. Sie müssen mit Rückfragen rechnen und Zusammenhänge kurz und prägnant darstellen. Ein gutes Interview wirkt auch auf die Befragten. Es gibt Interview-Varianten, bei denen die Aktivierung und Mobilisierung der Gespächspartner*innen der Hauptzweck ist.
Am Beispiel des Einsatzes im Solidaritätsseminar lässt sich die mehrfache Wirkung von Interviews zeigen. Die Fragenden bereiten sich in kleinen Gruppen vor, entwerfen und verwerfen Fragen und arbeiten sich so intensiv in das Thema Solidarität ein.
Eine zweite Wirkung hat das Interview bei den befragten Menschen auf der Straße. Bestenfalls entsteht bei ihnen der Gedanke „Mit Solidarität sollte ich mich auseinandersetzen!“ Auch wenn es nur zu einer kurzen Verstörung kommt, der Begriff Solidarität ist immerhin abgesetzt. Die Wirkung des Interviews auf die Lernenden im Solidaritätsseminar wird noch intensiver, weil mit den Befragungsergebnissen weitergearbeitet wird. Was bedeutet das ganz konkret für uns als Referent*innen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, wenn ganz viele Zeitgenoss*innen mit dem Wort Solidarität und seiner Bedeutung nichts mehr anzufangen wissen?
Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung
Schlecht vorbereitet, bleiben Interviews nur Energizer, die für Bewegung und Aktivität sorgen, ohne inhaltlich zu wirken. Im Zentrum der Vorbereitung steht die Frage nach dem Ziel: Was will ich mit den Interviews erreichen? Will ich Meinungen und Erfahrungen sammeln, eventuell Geschichten und Beispiele? Soll die Befragung Impulse setzen, provozieren, Vorurteile sichtbar machen, informieren…? Meistens sind ein Interview-Leitfaden oder zumindest eine ausformulierte erste Frage sinnvoll.
Vorbereitung brauchen auch die Fragesteller*innen selbst. Für einige Kolleginnen und Kollegen ist das Zugehen auf Fremde und das Ansprechen auf der Straße eine ziemliche Hürde. Wir haben auch beim Intervieweinsatz im Solidaritätsseminar Widerstand erlebt. Ermutigung und die Durchführung der Interviews im Tandem helfen. Probeinterviews in sicherer Umgebung bauen Ängste ab und erlauben z.B. den Interviewleitfaden zu verbessern. Zur Not gibt es für Einzelne Alternativaufgaben.
Die Nachbereitung hängt stark von der Zielsetzung ab. Das kann eine Aufbereitung der erhobenen Informationen sein. Welche Konsequenzen ziehen wir aus dem, was uns die Leute auf der Straße geantwortet haben?
Weitergehende Erfahrungen mit Befragungen in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit
Interviews ohne Einbettung in ein Seminar
Anlässlich eines runden Geburtstags einer Gewerkschaft schickte diese ihre Mitarbeiter*innen mit Fragen an die Passant*innen auf die Straße: „Was wünscht ihr unserer Gewerkschaft zum Geburtstag?“ Das ist eine Einsatzmöglichkeit der Methode ohne dazugehörigem Seminar. Auch hier ist eine mehrfache Wirkung zu erwarten: ganz verschiedene Mitarbeiter*innen der Gewerkschaft, von der Organisationsabteilung bis hin zur Buchhaltung, verlassen die gewohnte Umgebung, gehen aktiv auf Menschen zu, von denen nicht nur Schulterklopfen zu erwarten ist. Das verlangt Zivilcourage, Stellungnahme und etwas Mut. Das führt heraus aus der Komfortzone gewerkschaftlicher Büros und kollegialer Umgebung. Wenn die Erfahrungen bei der Befragung intern nach der Aktion aufgearbeitet werden, steigert das die Mobilisierungswirkung und die Identifikation mit der Gewerkschaftsbewegung und liefert vielleicht wichtige Anregungen für die Weiterentwicklung der Gewerkschaftsarbeit. So eine Aktion wirkt auch bei den Befragten, vielleicht sogar intensiver als Plakate und Flyer. Aktivierende Interviews und Befragungen gehören in den Werkzeugkasten für Kampagnen wie Demonstrationen, Blockaden oder Flashmobs.
Das 1:1-Gespräch als Interview-Variante
In gewerkschaftlichen Kampagnen spielen strukturierte 1:1 Gespräche eine Schlüsselrolle. Dazu gibt es vom Verein „Forschung und Bildung in Bewegung“ in Kooperation mit VÖGB/AK hilfreiches Material für die Betriebsratsarbeit in Form von „Handouts für erfolgreiches Organizing“. Folgende zwei Beispiele zeigen, was bei der Vorbereitung eines 1:1-Gesprächs berücksichtigt werden soll. Vieles ist auf Interview-Situationen übertragbar.
Quelle: Stern, Sandra; Gerstmayer, Wolfgang; Gstöttner-Hofer, Gerhard; Schneeweiß, Christian; Windtner, Martin (2019): Organizing mit BetriebsrätInnen. Unsere Anliegen im Betrieb durchsetzen. VÖGB/AK Striptenreihe PGA13. S.26
Vom Interview zur „Aktivierenden Befragung“ und zur „Militanten Untersuchung“
Die „Aktivierende Befragung“ ist eine eigenständige, in definierten Schritten ablaufende Methode, die in der Gemeinwesenarbeit, aber auch in Betrieben Anwendung findet. Auch hier geht es weniger um die Gewinnung von Daten, sondern darum, die Befragten zu mobilisieren und durch systematisches Befragen Bewegungen zu bilden und zu unterstützen. Die Idee ist, durch Befragung Veränderungen anzustoßen.
In einem Methodenbeitrag erklärt Christoph Stoik Ziel und Ablauf der Aktivierenden Befragung.
Die militante Untersuchung kommt als Methode aus der autonomen Arbeiter*innenbewegung (Operaismo) in Italien. Das war eine militante Bewegung, die die Selbstorganisierung der Arbeiter*innen in den Betrieben ins Zentrum ihrer politischen Arbeit stellte. Befragungen waren dabei ein wichtiges Mittel. Käthe Knittler erklärt: „Militante Untersuchungen sind ein Forschungsansatz, der sich selbst nicht nur der Wissensproduktion, sondern auch dem politischen Eingreifen und Handeln verschreibt – eine Quantifizierung der Verhältnisse interessiert hier recht wenig.“ (Siehe auch Lesetipp) . Käthe Knittler zeigt in diesem Aufsatz an konkreten Beispielen, wie schwierig es ist, dass sich die „militant untersuchten“ Betroffenen auf lange und anstrengende Veränderungsprozesse einlassen. Ein konkretes Beispiel zur militanten Untersuchung gibt es auch als Podcast.
Befragungen zum Anstoß von Veränderungen haben eine lange Tradition. So gab es im 19. Jahrhundert einen Arbeiterfragebogen von Karl Marx, der aus schlappen 101 Fragen bestand.
Zum Weiterlesen
Knittler, Käthe: Wissensarbeit und militante Untersuchung:Zwischen Produktion und Rebellion. Über Möglichkeiten widerständiger Wissensproduktion. In: Kurswechsel 1 / 2013 : 74–83
Autoren: Ulli Lipp und Philip Taucher
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