#dido: Selbstorganisation – die DNA der Veränderung

Die Corona-Pandemie mit ihren Lockdown-Bedingungen der physischen Distanzierung hat Bildungseinrichtungen, und damit auch die Angebote der gewerkschaftlichen Bildung, vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Gleichzeitig hat sie einen Digitalisierungsschub gebracht und Onlineformate sind auch in der gewerkschaftlichen Bildung gekommen, um zu bleiben, wie etwa anhand des neuen GPA Online-Campus deutlich wird.

Doch die Entwicklung ist mindestens zweischneidig: Digitalisierungsschub auf der einen und die Sehnsucht nach Bildungsveranstaltungen in Präsenz auf der anderen Seite. Auch dort, wo auf Onlineformate umgestellt wurde, wurde es zum geflügelten Wort, dass besonders in der gewerkschaftlichen Bildung die gemeinsame Begegnung in einem Raum die wesentliche Essenz des Lernprozesses sei. Das hörte und hört sich teilweise so an, als ob die Digitalisierung (der Bildung) den Zielen gewerkschaftlicher Bildung zuwider laufe.

Ich möchte in diesem Beitrag der Frage nachgehen, wie wir es in der gewerkschaftlichen Bildung mit der Digitalisierung halten und diese Frage mit dem Verständnis gewerkschaftlicher Bildungsprozesse verknüpfen. Diesem Vorhaben stelle ich die Behauptung voran, dass gewerkschaftliche Bildung und Digitalisierung sehr gut zusammenpassen, und noch mehr: Wir können sogar ein Verständnis der beiden verfolgen und gestalten, das so etwas wie eine gemeinsame DNA von gewerkschaftlicher Bildung und Digitalisierung erkennen lässt. Dafür möchte ich mich den Themen (digitale) Kompetenzen und Selbstorganisation widmen.

„Digitale Kompetenzen“

In einem der frühesten offiziellen Dokumente der österreichischen Arbeitnehmer:inneninteressenvertretung zum Thema Digitalisierung bzw. digitaler Wandel („Wie gestalten wir den digitalen Wandel gerecht?“, PDF 1,12MB) aus dem Jahr 2015 finden sich bereits ausführliche Hinweise zu digitalen Kompetenzen für eine digitale Gesellschaft. Das breite Verständnis zielt auf gesellschaftliche Teilhabe ab. Die verbreitete Praxis und der vorherrschende Fokus der Diskussion lag und liegt aber bis heute im Blick auf konkrete Anwender:innenschulungen, einer Vertiefung von Datenschutzkenntnissen sowie auch auf Medienkompetenz.

Meiner Einschätzung nach konnten damals grundlegendere Dynamiken der Digitaliserung noch nicht in den Blick genommen werden, die etwa im folgenden Verständnis von digitalen Komptenzen zum Ausdruck kommt:

“Digitale Kompetenzen verstehen wir als Kompetenzen für das Leben, Lernen und Arbeiten unter den Bedingungen der Digitalisierung. Sie umfassen im eigentlichen Sinne eine individuelle, formelle wie auch informelle Kompetenzentwicklung und zielen auf die Befähigung in komplexen, offenen Situationen kreativ, zielgerichtet und selbstorganisiert handeln zu können und dies unter Nutzung von neuen, sich schnell fortentwickelnden Technologien, allen voran der Informations- und Kommunikationstechnologien.”

Anne Röhrig / Anna Mikheeva / Steffi Michailowa: „Digitalisierung ist mehr, als nur einen Computer vor sich zu haben.“ Zusatzqualifikationen für digitale Kompetenzen in der Aus- und Weiterbildung: Eine Handreichung. Berlin 2018: Seite 5f. (PDF 874KB)

„Unter den Bedingungen der Digitalisierung“

In der Pandemie wurden grobe Widersprüche im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Bildungsprozessen beobachtbar: Verbreitete, teilweise prinzipielle Abwehr gegenüber Onlineformaten auf der einen sowie erstaunliche Digitalisierungsschübe auf der anderen Seite. Hier sind Spaltungen, die bis dahin hauptsächlich Expert:innenzirkel beschäftigt haben, plötzlich auf viel breiterer Ebene verschiedener Bildungspraxen zu Tage getreten (etwa die mittlerweile überholte Diskussion um „Digital Natives“ vs. „Digital Immigrants“). Damit wurden aber auch politische und organisationale bzw. betriebliche Defizite und Versäumnisse, die Digitalisierung zu gestalten, auf vielen Ebenen sicht- und spürbar. Konkret: Das oben zitierte Verständnis digitaler Kompetenz stammt aus der Zeit vor dem „pandemiebedingten Digitalisierungsschub“. Welcher Betrieb, welche Organisation – und hier speziell: welche Bildungseinrichtung – kann von sich behaupten, bereits vor der Pandemie hinsichtlich (Infra-)Strukturen, Prozesse und Komptenzen entsprechend aufgestellt gewesen zu sein?

Ich möchte hier allerdings anregen, die Perspektive zu ändern, und folgenden Teil aus dem obigen Zitat in den Blick zu nehmen: die „Befähigung in komplexen, offenen Situationen kreativ, zielgerichtet und selbstorganisiert handeln zu können“ und nicht etwa die „Nutzung von neuen, sich schnell fortentwickelnden Technologien, allen voran der Informations- und Kommunikationstechnologien“. Die (Kompetenz-)Anforderungen der Digitalisierung werden üblicherweise schnell mit dem Blick auf Technik und Tools beantwortet. Es macht aus meiner Sicht aber Sinn, die „Bedingungen der Digitalisierung“ verstärkt auf andere Kompetenzbereiche zu beziehen. Die Veränderungen, mit denen wir alle in der Digitalisierung konfrontiert sind, können dann als viel grundlegender angenommen werden als sich bloß mit möglichst vielen „Tools“ gut vertraut zu machen – auch wenn entsprechende Angebote für „DigiSkills“ natürlich nicht ausgespart bleiben dürfen.

Als „viel grundlegendere Veränderungen“, die zwar mit der technologischen Entwicklung zu tun haben, aber nicht durch technologische Kompetenz allein gelöst werden können, gilt es strukturelle und kulturelle Veränderungen in den Blick zu nehmen. Diese wirken vor allem in Organisationen und insbesondere in der Arbeitswelt. Kurz formuliert: Die bekannten, hierarchisch-pyramidalen Strukturen, Logiken und Kulturen bestehen zwar weiterhin, geraten aber sukzessive auch unter Druck. Damit verändert sich auch die Art und Weise, wie wir das Leben in unseren Arbeitskontexten erleben und gestalten.

„Aktuelle Arbeitswelten präferieren heute keine explizit monarchischen Lösungen, sondern eine Interaktion zwischen formal notwenigen Machtstrukturen der Organisation und der Bildung von flexibleren Netzwerken. Unsere Arbeitswelten sind komplexer denn je, die fortschreitende Digitalisierung lässt im globalen Wirtschaftsraum eine alleinige pyramidenförmige vertikale Setzung von Autorität scheitern.“

Andrea Tippe / Christina Spaller: Auf.Begehren: Zwischen Freihit und Autorität. In: supervision. Mensch. Arbeit. Organisation. Zeitschrift für Beraterinnen und Berater. 40. Jg., Nr. 4, 2022, Seite 27-31, Seite 29.

Mittlerweile ist es bei Weitem geläufiger, über „Wendezeit“ und „Umbrüche“ zu sprechen und zu schreiben, als dies noch vor ein paar Jahren der Fall war. Das hat sicherlich mit der Klimakrise, aber jedenfalls auch mit den spürbaren Auswirkungen der Digitalisierung zu tun.

Lösungswege suchen in alten Tugenden: Selbstorganisation

Gesellschaftliche Umbrüche gehen mit Krisen, oft auch mit gesellschaftlichen Katastrophen, aber auch mit neuen Potenzialen und Bewegungen einher. Es sind Zeiten, in denen das Leben als volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig erscheint („VUCA„) und in denen verschiedene Suchbewegungen entstehen, um Lösungen zu finden. Ich finde es spannend, zu beobachten, wie aktuell Konzepte und Praxen der Selbstorganisation und Kollaboration an Bedeutung gewinnen – und muss dabei an die Anfänge der Gewerkschaftsbewegung in einer Zeit immenser gesellschaftlicher Umbrüche denken: „Am Anfang war der Bildungsverein“, wie es bei Jura Soyfer heißt.

„In der Tat war schon allein die Existenz der Arbeiterbildungsvereine, nämlich ihre Selbstverwaltung mittels demokratischer Regeln und Strukturen ein bedeutendes Stück politischer Bewußtseinsbildung. Anstelle monarchisch-untertäniger Gesinnung wurde da ein neuer republikanischer Geist gelebt, der eine Voraussetzung für den Durchbruch eines modernen demokratischen Systems darstellte. […] Selbstorganisation als Element des Strebens nach Emanzipation bedeutete einen unverzichtbaren Schritt zur Entwicklung kollektiver Handlungs- und Organisationsform.“

Harald Troch: „Quelle der Belehrung und Veredelung“ Die Arbeiterbildungsvereine als Keimzelle. In: Harald Troch (Hg.): Wissen ist Macht! Zur Geschichte sozialdemokratischer Bildungsarbeit. Wien 1997: Löcker Verlag, Seite 7-29, Seite 22.

Auch hier wird deutlich, wie stark sich die politische Gegenbewegung der Arbeiter:innenschaft gegen etablierte (hierarchische) Machtstrukturen gebildet und organisiert hat. Die Machtstrukturen der damaligen Gesellschaft waren in vielerlei Hinsicht anders ausgeprägt als heute. Dennoch ist es aus meiner Sicht wichtig, danach zu fragen, inwieweit es sich heute im Kern um dieselben Problemstellungen eines Leidens an Hierarchie und mit ihr verbundener Intransparenz, Willkür und Ungleichheit handelt wie damals. Aus Sicht der Arbeiter:innenbewegung bleibt die Ausgangslage jedenfalls im Grunde aufrecht:

„Die herrschende Klasse hat die Macht in der Gesellschaft und die untergeordnete Klasse des Proletariats hat die historische Aufgabe, durch Selbstorganisation ‚Gegenmacht‘ aufzubauen.“

Gerhard Gstöttner-Hofer: #thedi: Gegenmacht „bilden“ – Teil 1
Bild: Thomas Kreiml

Ich möchte dieser Idee, Prozesse der Selbstorganisation könnten eine vielversprechende Lösungsoption für die verschiedenen individuellen, organisatorischen und gesellschaftlichen Problemstellungen sein, weiter folgen. Nicht umsonst verbreiten sich Bemühungen, Selbstorganisation als Ziele (etwa von Lernprozessen) und als Praxis in ganz verschiedenen Bereichen zu integrieren. Zwei beispielhafte Hinweise dazu:

  1. der entsprechende Verweise im oben zitierten Verständnis digitaler Kompetenz und
  2. die enorme Ausbreitung von agilen Arbeitsweisen, Methoden und teilweise auch Organisationsmodellen in den letzten zumindest zehn Jahren – allerdings hauptsächlich in profitorientierten Unternehmen (wo sie letztlich klarerweise nicht dafür eingesetzt werden, um Hierarchie gänzlich zu demokratisieren, sondern um die Potenziale von Selbstorganisation in der „VUCA-Welt“ auszureizen).

Selbstorganisation lernen – unter Begleitung!

Wenn Selbstorganisation eine Lösung für das Leben und Arbeiten unter Bedingungen der Digitalisierung ist, stellt sich die Frage, wie sie gelernt bzw. weiterentwickelt werden kann und was es dafür braucht? Ich denke, es lohnt sich, den Blick auf „digitale Kompetenzen“ etwa auch von Trainer:innen von dieser Seite her zu wagen, um erst in weiterer Folge darauf zu schauen, welche technischen Skills hier interessant und nötig sind. Im REFAK-Seminar „Moderationskoffer Internet“ gehen wir jedenfalls davon aus, dass Onlinetools geradezu dafür geschaffen sind, selbstorganisiertes Lernen zu unterstützen. Das unter anderem deshalb, weil sie die „User:innen“ in den Mittelpunkt stellen („User Generated Content“) und weil sie Kollaborationsmöglichkeiten als Grundeinstellung („default“) beinhalten.

Was für das Lernen unter Bedingungen der Digitalisierung von Trainer:innen gefragt ist, ist zuerst wiederum die Selbstreflexion der eigenen Rolle im Lernprozess. In aller Kürze gesagt landen wir bei einer bekannten Antwort, nämlich dem Bild der „Lernbegleiter:in“ inkl. der Kompetenz, beteiligungsorientierte, selbstorganisierte, kollektive Lernprozesse begleiten zu können:

„Lehrende hatten – überwiegend in Präsenztrainings organisiert – die Aufgabe, Wissen zu vermitteln. Die Rollenzuschreibung war klar definiert: Die lehrende Person legte fest, was, in welcher Zeit, wie gelernt wird. Dieses Rollenverständnis wandelt sich und ist weiter ausdifferenziert. Lehrende fungieren zunehmend als Lernbegleiter*innen, Mentor*innen oder Coaches, die bei Fragen Hilfestellung bieten, die Kommunikation und Kooperation unter den Lernenden moderieren, Lernprozesse anregen oder verstärken und einen Ermöglichungsrahmen bieten. Dieses veränderte Rollenbild verlangt auch ein verändertes Mindset auf Seiten der Lehrenden.“

Sophie Keindorf / Lisa Kammerer / Yvonne Kessel / Kathrin Kochseder: Smartboards sind keine digitale Strategie. Wie Bildungsorganisationen den digitalen Wandel gestalten können. Handreichung für die Erwachsenenbildung und Weiterbildung, Seite 31. (PDF 880KB)

Eine diesen Anforderungen entsprechende Haltung zu entwickeln und Lernende bzw. lernende Gruppen begleiten zu können, ist eine Herausforderung, für deren Bewältigung eine breite Palette an Angeboten zur Verfügung steht. Aus meiner Sicht geht es dabei aber vor allem auch um Lernprozesse unter einem Titel, der meinem Eindruck nach in unseren Bildungseinrichtungen aus der Mode gekommen ist bzw. an Bedeutung verloren hat: Es geht um Persönlichkeitsentwicklung.

Es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle mit einem Plädoyer für ein Lernformat zu schließen, das meines Erachtens weithin zu wenig Beachtung findet und gerade im Kontext der Diskussionen um Digitalisierung und digitale Kompetenzen kaum bis keine Beachtung findet: Ich plädiere dafür, gerade unter Bedingungen der Digitalisierung gruppendynamische Kompetenzen und Lernsettings zu forcieren. Sie behandeln im Kern, was aktuell an so vielen Stellen brüchig erscheint: Ein Lernen über sich selbst in Begegnung mit anderen, wodurch sich das persönliche Handlungsrepertoire in kollektiven Aushandlungsprozessen (Selbstorganisation > Demokratisierung) erweitert. Dabei erweitern sie auch das Verständnis von Gruppenprozessen und die Kompetenzen, diese Prozesse zu begleiten.

Bild: Ninia Wöber-Kikava

„Anders als bei herkömmlichen Lernprozessen, in denen LehrerInnen den SchülerInnen Wissen präsentieren und letztere KonsumentInnen des Wissens sind, sind die TeilnehmerInnen in einem gruppendynamischen Training Lernende und Lehrende zugleich.“

Oliver König / Karl Schattenhofer: Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg 2018: Carl-Auer-Systeme-Verlag, Seite 64.

Die heutigen Herausforderungen der Gewerkschaften und damit der gewerkschaftlichen Bildung erfordern die Kompetenz, Menschen dabei zu begleiten, ihre Interessen als Arbeiter:innen und damit ihre betrieblichen und gesellschaftlichen Machtressourcen zu organisieren. Wir haben es hier mit aufwändigen, langwierigen und immer wieder auch schwierigen, konflikthaften Prozessen zu tun, in denen es um Macht, Vertrauen und Zugehörigkeit geht. Professionell begleitet können diese aber auch entsprechend mächtige Wirkungen für alle Betroffenen haben und sie zu Beteiligten machen.

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Autor: Thomas Kreiml

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