„Im Parlament sind Menschen wie ich gut vertreten.“ Dieser Aussage stimmen in Österreich über 60 Prozent der Angehörigen des obersten Einkommensdrittels zu, aber nur 16 Prozent der Angehörigen des untersten Einkommensdrittels. „Es gibt eine Partei, die meine politischen Anliegen vertritt“ – finden über 80 Prozent der Gutverdiener:innen zutreffend, aber nicht einmal die Hälfte im untersten Einkommensdrittel.
„Menschen wie ich können etwas bewirken, wenn sie sich beteiligen“. Diese Aussage bejahen nur 26 Prozent der Angehörigen des untersten Einkommensdrittels.1 Und fast 50 Prozent von selbigen meinen, ihre Arbeit werde von der Gesellschaft wenig bis gar nicht wertgeschätzt.2 Fast drei Viertel von ihnen fühlen sich von der Politik als Mensch zweiter Klasse behandelt.3
Unterstes Einkommensdrittel – wer ist das?
Dazu gehören vor allem Menschen, die mit ihrer Arbeit die Gesellschaft am Laufen halten und ohne die der Alltag der meisten Menschen nicht funktionieren würde: Reinigungskräfte, Handelsangestellte, Gesundheits- und Krankenpfleger:innen, Lieferdienste, Beschäftigte in der Kinderbildung, der medizinischen Assistenz oder in der Altenbetreuung. Zum niedrigen Einkommen kommt noch ein Arbeitsalltag, der oft von Überstunden, körperlichen oder psychosozialen Belastungen geprägt ist.
Trotz der für die Gesellschaft so fundamentalen Bedeutung dieser „systemrelevanten“ Jobs und der dort verrichteten harten Arbeit sind die Beschäftigten in diesen Bereichen oft mit Niedriglöhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und geringem gesellschaftlichen Berufsprestige konfrontiert. Gerade Geringverdienende haben zurzeit zusätzlich mit Inflation, Teuerung und Preissteigerungen zu kämpfen. Die Mehrkosten aufgrund der Teuerungen betrugen 2022 rund 1.060 Euro, das ist z.B. für Angehörige des untersten Einkommenszehntels mehr als ein Monatseinkommen.4
Wer sich von Staat und Politik als Mensch zweiter Klasse behandelt fühlt, weil die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung ausbleibt und man mit dem Einkommen kaum auskommen kann, wendet sich zusehends auch von der Demokratie ab. Ungerechtigkeitserfahrungen schlagen sich nicht in vermehrter politischer Betätigung nieder, sondern führen zu Apathie und Rückzug. Nur 59 Prozent der Angehörigen des untersten Drittels nahm an der Nationalratswahl 2019 teil – während im sozioökonomisch privilegiertesten Drittel 83 Prozent zur Wahl gingen.5 Diese Entwicklung ist nicht naturgegeben: Bis in die 1970er Jahre lag die Wahlbeteiligung in klassischen Arbeiter:innenbezirken höher als in den wohlhabend geprägten Wiener Bezirken.
Wer sitzt im Parlament?
Angehörige der untersten Einkommensschichten fühlen sich in der Politik nicht repräsentiert – und haben mit ihrer Einschätzung recht: Blickt man ins Parlament, wimmelt es nur so von Anwält:innen, Notaren, Steuerberater:innen, Bankiers, Manager:innen, Immobilienunternehmer:innen, Wirtschaftstreibenden oder Ärzt:innen. Abgeordnete mit Arbeiter:innen-Hintergrund, aus den oben angeführten „systemrelevanten“ Jobs oder ohne akademischem Abschluss sucht man dagegen mit der Lupe. Fast drei Viertel der österreichischen Nationalratsabgeordneten haben bezahlte Nebenjobs, teilweise mit Nebenverdiensten über 12.000 Euro: In der höchsten Einkommenskategorie sammeln sich sechs Abgeordnete der ÖVP, vier der FPÖ und zwei der NEOS.
Dass Angehörige nichtprivilegierter sozialer Schichten im politischen System unterrepräsentiert sind, ist kein Österreich-Spezifikum, wie eine Studie der „Friedrich Ebert Stiftung“ zeigt. Auch in den Abgeordnetenhäusern Polens, Frankreichs, Spaniens, Großbritanniens und der Türkei finden sich zu jeweils weit über 80 Prozent Angehörige der „upper service class“, aber nur ein verschwindend geringer einstelliger Prozentanteil Angehörige der „working class“.6
Wer wird ausgeschlossen?
Viele müssen sich erst gar nicht abwenden vom politischen System, sondern werden von vornherein ausgeschlossen: Rund 1,5 Millionen Menschen in Österreich und gar 30 Prozent der Wiener Bevölkerung im wahlfähigen Alter sind aufgrund der fehlenden österreichischen Staatsbürgerschaft vom Wahlrecht ausgeschlossen. Der Anteil der Nicht-Staatsbürger:innen an der Gesamtbevölkerung ist im Jahr 2024 auf 19,66 Prozent gestiegen – ein Zuwachs von über 7 Prozentpunkten im 10-Jahres-Vergleich und mehr als eine Verdoppelung im Vergleich zu 1999.7
Dank der hohen Hürden bei der Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft, etwa zu erreichende Einkommensgrenzen, ist die Einbürgerungsrate seit Jahren äußerst niedrig und Österreich Schlusslicht in Europa, was den Zugang zur Staatsbürgerschaft betrifft. Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte oder Beschäftigte in schlecht bezahlten Branchen, etwa Reinigungspersonal, Kassierer:innen, Call-Center-Angestellte oder Verkäufer:innen werden so systematisch vom Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft ferngehalten – und damit auch um ihr Wahlrecht gebracht. Sie werden sozusagen doppelt bestraft: Einerseits in Form niedriger Löhne und damit schwierigerer Arbeits- und Lebensbedingungen, andererseits durch den Ausschluss von Mitbestimmung und Demokratie.8
In Wien sind 60 Prozent der Arbeiter:innen, 35 Prozent der freien Dienstnehmer:innen und der Beschäftigten in systemrelevanten Berufen sowie über ein Viertel aller Angestellten nicht wahlberechtigt.9 Wenn ein immer größerer Teil der Bevölkerung, noch dazu jener Menschen, die harte Arbeit verrichten, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, gerät auch die Demokratie an sich in eine Krise. Zudem beeinträchtigt der wachsende Wahlrechtsausschluss die politische Willensbildung: Für den Politikwissenschafter Gerd Valchars ist die Demokratie „kein Abbild der Gesellschaft mehr, sondern ein stark verzerrtes Spiegelbild“.
SOS Demokratie
Wenn ein immer größerer Anteil der Bevölkerung von Mitbestimmung ausgeschlossen ist und vom politischen System nicht mehr repräsentiert wird, stellt sich die Legitimitätsfrage: Was ist das eigentlich für eine „Demokratie“?! Eine Demokratie, in der die Mehrheit der Arbeiter:innen keine Stimme mehr hat, in der ein Fünftel der Bevölkerung im wahlfähigen Alter nichts mitzureden hat, in der ganze Berufsgruppen de facto ausgeschlossen werden, läuft längst Gefahr, zu einer Art „Schein-Demokratie“ zu verkommen. Rasche und effektive Maßnahmen, um die aktuelle Fehlentwicklung in Richtung Pseudo-Demokratie aufzuhalten, Hürden bei der Staatsbürgerschaft abzubauen und Mitbestimmungsrechte möglichst auszuweiten, sollte jedenfalls für eine neue Regierung ab Herbst 2024 auf der Prioritätenliste ganz oben angesiedelt sein.
Autor: Boris Ginner
Am nächsten demokratischen Montag…
…befassen sich die Kolleg:innen von Sapere Aude mit einem Thema, das in den letzten Jahren deutlich an Relevanz und Aufmerksamkeit in der öffentlichen Debatte gewonnen hat: Demokratiefeindlichkeit und Demokratieskepsis.
Lust auf mehr? Zu allen Beiträgen der Serie kommst du HIER!
- SORA: Österreichischer Demokratie Monitor, 28.11.2023 ↩︎
- Zandonella, Martina/Ehs, Tamara: Die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit auf die Demokratie, Wien 2020, S. 36 ↩︎
- SORA Demokratie Monitor 2020, S. 18 ↩︎
- Konsumerhebung 2019/20, Statistik Austria ↩︎
- SORA Demokratie Monitor, 28.11.2023, S. 4 ↩︎
- FES: Unequal Democracies: Who does (not) have a seat in parliament? Juni 2022 ↩︎
- Valchars, Gerd, Statistik Austria: 13.02.2024 ↩︎
- Nur bei der AK-Wahl können Nicht-österreichische Staatsbürger:innen wählen, sofern sie AK-Mitglieder sind. Bei Gemeinderats- und Bezirksvertretungswahlen gibt es ein Wahlrecht für EU-Bürger:innen. ↩︎
- Schönherr, Daniel/Zandonella, Martina/Glaser, Harald: Kolleginnen und Kollegen mit anderen Staatsangehörigkeiten als der österreichischen am Arbeitsmarkt, Jänner 2022, S. 19f ↩︎
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen unter gleichen Bedingungen 3.0 Österreich Lizenz.
Volltext der Lizenz