Gewerkschaftliche Bildungsarbeit goes online

Wiener Gewerkschaftsschule virtuell

Der Lockdown hat natürlich auch die Gewerkschaftsschule sehr überrascht – und weil bis dahin ausschließlich Präsenz-Abendeinheiten im Curriculum enthalten waren, musste ein völlig neues Programm entwickelt werden. Das Team der Wiener Gewerkschaftsschule berichtet, wie sie reagiert haben.

Die Wiener Gewerkschaftsschule ist ein zwei Jahre dauernder Lehrgang, der sich neben Betriebsrät*innen auch an alle Gewerkschaftsmitglieder richtet. Pro Jahrgang finden in Wien jeweils zwei Gruppen parallel statt, während der Corona-Krise haben also 72 Personen, verteilt auf vier Gruppen, teilgenommen. Normalerweise finden an zwei Abenden wöchentlich dreistündige Einheiten statt, in denen ein breites Themenspektrum abgedeckt wird: Rechtliches und wirtschaftliches Grundwissen steht genauso am Plan wie Rhetorik oder Öffentlichkeitsarbeit. HIER findest du mehr Infos zur Gewerkschaftsschule.

REFAK-Team: Der Lockdown war ja für alle erstmal ein Schock – für die Gewerkschaftsschule war klar, dass sie in der gewohnten Form nicht weiter stattfinden kann. Wie habt ihr darauf reagiert?

Stefan: Wir haben uns – natürlich virtuell – zusammengesetzt und überlegt, das Curriculum auf eine Selbstlern-Form umzustellen. Als Ziel haben wir die kontinuierliche Weiterführung der Gewerkschaftsschule inklusive Teilnehmer*innen-Abschluss bis zum Ende der Covid-19 Maßnahmen definiert. Besonders wichtig war es uns, dabei niemanden zu verlieren – wegen technischer Problemen zum Beispiel, weil nicht alle zuhause einen Computer mit Kamera und Mikro haben…

Außerdem wollten wir erreichen, dass das, was die Teilnehmer*innen an der Gewerkschaftsschule am meisten schätzen, auch in der Online-Phase sichergestellt werden kann: der betriebs- und branchenübergreifende und politischen Austausch untereinander. Wir haben deshalb entschieden, aus der gesamten Online-Selbstlernphase ein Projekt mit kleineren Projektgruppenteams aus maximal fünf Teilnehmer*innen zu machen. Durch die kleineren Bezugsgruppen wird der Austausch der Teilnehmer*innen untereinander unterstützt.

REFAK-Team: Wie seid ihr das konkret angegangen? Was habt ihr ganz am Beginn des Lockdowns gemacht?

Tanja: In unserer Rolle als Lehrgangscoaches haben Markus und ich aktiv das Gespräch mit den Teilnehmer*innen gesucht, Unterstützung angeboten und versucht, alle möglichen Fragen zur Online-Phase zu klären. Einige der Teilnehmer*innen waren ja in ihren Rollen als Betriebsrät*innen oder in systemrelevanten Berufen oder sogar in beidem sehr gefordert… Insofern war schnell klar, dass sie nicht zweimal wöchentlich an Abendeinheiten teilnehmen können.

REFAK-Team: Und inhaltlich bzw. didaktisch?

Stefan: Währenddessen hab ich das Curriculum durchgeschaut und dann die Inhalte an die aktuelle Situation angepasst: Job und Corona, Sozialstaat, Gesundheitspolitik, Demokratie – fast alle Themen lassen sich gut mit dieser Krisensituation verbinden, da wird auch vieles klar. Zum Beispiel, wie wichtig ein gutes Sozialsystem gerade in solchen Zeiten ist… Wir haben also einen Plan für das e-Learning ausgearbeitet, den wir dann auch mit den Semestersprecher*innen diskutiert und abgestimmt haben. Für diese Online-Phase haben wir viel Material zu den unterschiedlichen Themen zusammengetragen, Artikel, YouTube-Videos, Internetquellen und so weiter.

Wir haben umfangreiche Fragenkataloge zu den einzelnen Themenblöcken erarbeitet, und den Teilnehmer*innen zur Verfügung gestellt, zum Beispiel einen zum Thema „Job und Corona„. Die Ressourcen für das Selbstlernen, die Tanja schon genannt hat, haben wir einerseits auf Moodle gestellt, zusätzlich haben wir sie aber auch noch per Mail ausgeschickt, damit auch wirklich alle alles erhalten. Eine Teilnehmerin hat Unterlagen auch ausgedruckt im ÖGB abgeholt.

Themensammlung mit Links und Materialien zum Download

REFAK-Team: Didaktisch habt ihr den Fokus ganz stark auf Selbstlernen gelegt…

Stefan: Ja, die Überlegung, einfach Online-Frontalvorträge zu machen, haben wir ganz schnell verworfen. Damit wären glaub ich auch die Trainer*innen überfordert gewesen, so aus dem Stegreif. Außerdem widerspricht ein Frontal-Format ja vollkommen den Zielen der Gewerkschaftsschule, die ich ja schon beschrieben habe: Austausch untereinander, Lernen voneinander und an Problemstellungen, die aus dem eigenen Betrieb bekannt sind…

REFAK-Team: Wie ist diese Selbstlernphase konkret abgelaufen? Ihr habt die Themenübersicht erarbeitet und eine ganze Menge Materialien zur Verfügung gestellt. Wie haben die TN sich die Themenfelder erarbeitet?

Tanja: Mit Hilfe der Fragenkataloge haben die Teilnehmer*innen sich die Themenbereiche in den Kleingruppen selbständig erarbeitet. Das Ziel dabei war einen Diskussionsprozess in den Kleingruppen in Gang zu bringen, die Leute zu motivieren, sich mit den Themen auseinanderzusetzen und Gedanken zu machen. Lernen im klassischen Sinn, also reine Wissensanhäufung, war da gar nicht so im Vordergrund.

Stefan: Das Ziel der Selbstlernphase war es, dass jede Projektgruppe eine gemeinsame Präsentation über alle Themenblöcke macht. Die Gestaltung haben wir den Teilnehmer*innen völlig offen gelassen und inhaltlich ist es auch bei den Präsentationen nicht drum gegangen, nur das erarbeitete Wissen darzustellen. Vielmehr sollten die Gruppen ihre gemeinsamen Erkenntnisse, spannenden Einsichten oder auch kontroversen Diskussionen darstellen. Die Präsentationen sollten also den Diskussionsprozess in den Gruppen widerspiegeln.

Die „Pandemie-Presse“

Ute: Die Form der Präsentationen war dann auch sehr unterschiedlich. Ein oder zwei Gruppen haben zum Beispiel einfach nur erzählt, andere haben eine PowerPoint-Präsentation gemacht. Zwei Gruppen haben Kurzvideos gedreht und eine Gruppe hat sogar eine Zeitung gestaltet, die Pandemie-Presse. Insgesamt waren die Gruppen echt sehr kreativ! Und zum Glück konnten die Präsentationen dann doch wieder „live“, also im Präsenzmodus, gemacht werden – am Anfang sind wir ja eigentlich davon ausgegangen, dass auch die Präsentationen online sein werden…

REFAK-Team: Und wie ist es den Teilnehmer*innen mit der Selbstlernphase gegangen?

Tanja: Das war wirklich extrem unterschiedlich. Manchen hat das total gut gefallen, für andere war es aber eine echte Herausforderung bis hin zur Überforderung. Man braucht ja für so ein Selbstlern-Setting schon ganz spezifische Kompetenzen, muss Recherchieren und Informationen zusammentragen können, vernetzt denken und sich nicht zuletzt selbst organisieren können, das sind viele nicht gewohnt. Und für einige war es auch technisch schwierig: Wenn ein Smartphone das einzige „Arbeitsgerät“ ist, fällt es halt schwer, Dokumente zu lesen und im Internet zu recherchieren.

Stefan: Insgesamt ist die Selbstlernphase aber eigentlich ziemlich gut gelaufen, die Teilnehmer*innen waren engagiert und haben sich in die Themen vertieft. Irgendwann, so nach einem Monat, war das dann aber doch zu wenig, es kam ganz stark der Wunsch nach Input.

REFAK-Team: Wie habt ihr auf diesen Wunsch nach „Input“ reagiert?

Stefan: Wir haben Web-Talks gemacht: Mit der ÖGB Vizepräsidentin Korinna Schumann, dem Arbeitsrechtsexperten Jimmy Müller und Michael Wögerer von weltumspannend arbeiten zum Thema „Internationale Gewerkschaftsarbeit in Zeiten von Corona“. In einer Videokonferenz haben die Gäste einen kurzen Input gegeben. Danach konnten die Teilnehmer*innen mit ihnen diskutieren.
Die Termine mit den Web-Talks haben wir an alle Teilnehmer*innen ausgeschickt, die Teilnahme war freiwillig. Interessanterweise waren bei keinem der Termine mehr als zehn Teilnehmer*innen dabei. Obwohl ja eigentlich der Wunsch nach so einem Format von ihnen selbst gekommen ist…

REFAK-Team: Der Austausch unter den Teilnehmer*innen ist offenbar wirklich ein zentrales Element. Dafür ist eine gute Gruppendynamik ja besonders wichtig – wie kann die unter den Corona-Bedingungen aufrechterhalten werden?

Stefan: Wir haben versucht, alle Austauschmöglichkeiten, die wir im Präsenz-Modus anbieten, in den virtuellen Raum zu verlegen, vom face-to-face-Gespräch mit den Lehrgangscoaches über unterschiedliche Kleingruppensettings bis hin zu den Gesamtgruppen. Für jede unserer vier Lehrgangsgruppen haben wir alle zwei Wochen einen Online-Termin angeboten, zu dem grundsätzlich die ganze Gruppe eingeladen war. Die Teilnahme war aber freiwillig und das Angebot ist auch ganz unterschiedlich angenommen worden. Sowas muss ja auch in den jeweiligen Lebensrhythmus passen und sich mit Beruf und Familie vereinbaren lassen, es hat keinen Sinn, die Leute dazu zu verpflichten.

Ute: Tanja und Markus, die Lehrgangscoaches, waren grundsätzlich für die Teilnehmer*innen erreichbar. Der Fokus in den Gesprächen ist aber nicht nur auf Themen mit Bezug auf die Gewerkschaftsschule gelegen, sondern auch auf den persönlichen Umgang mit der Ausnahmesituation.

Tanja: Auch die Semestergespräche haben wir online gemacht, das sind Feedbackgespräche, wo es drum geht, die individuellen Lernprozesse zu reflektieren. Insofern war das Lehrgangscoaching ein extrem wichtiger Teil der Online-Phase dar. Untereinander haben die Teilnehmer*innen hauptsächlich in ihren Projektgruppen kommuniziert. Darüber hinaus haben die Lehrgänge alle noch ihre WhatsApp-Gruppen, in denen wir als Lehrgangsteam nicht drin sind. Da sind sie also auch unter sich. Der persönliche Kontakt in der Gewerkschaftsschule hat aber trotzdem allen gefehlt.

Stefan: Die Rückmeldung von den Teilnehmer*innen war auch, dass sie sich zwar in ihren Kleingruppen gut verankert gefühlt haben, der Kontakt zur ganzen Lehrgangsgruppe aber schon leidet. Da fehlt einfach der Austausch, die politischen Diskussionen gehen ab. Wir hoffen wirklich, dass wir im Herbst wieder „normal“, also im Präsenzmodus weitermachen können!

REFAK-Team: Was, würdet ihr sagen, waren denn Probleme und Hindernisse?

Stefan: Ein Problem ist, dass sich der gesamte Lehrgang, also alle Teilnehmer*innen einer Gruppe, nie hat treffen können. Einerseits aus technischen Gründen, weil das Datenvolumen halt mit der Anzahl der Videocall-Teilnehmer*innen steigt und dadurch die Stabilität leidet, aber auch an der schwierigen Terminkoordination während dieser Corona-Phase, wo ja viele beruflich und familiär ganz einfach eingespannt waren. Und auch die geringere Verbindlichkeit im Vergleich zu „echten“ Treffen spielt da sicher eine Rolle.

Ute: Von der technischen Seite her war problematisch, dass es keine Richtlinien gegeben hat, welche Plattformen und Tools eingesetzt werden sollten etc. Wir haben deshalb die unterschiedlichsten Sachen ausprobiert und von zoom über jitsi bis zu Teams und BigBlueButton alles Mögliche getestet. Das war für die Teilnehmer*innen sicher auch nicht einfach. Besser wäre es also, eine bestimmte Plattform und eine Handvoll Tools zur Verfügung zu haben, für die es dann im Problemfall auch technischen Support gibt.

REFAK-Team: Wenn ihr anderen in der gleichen Situation Tipps geben könntet – welche wären das?

Ute: Am allerwichtigsten: Bitte Ruhe bewahren! 😉 Und tun was möglich ist.

Tanja: Viel kommunizieren, mit den Teilnehmer*innen aktiv in Kontakt treten und nicht drauf warten, dass sie das von sich aus tun. Viel besprechen, alles Schritt für Schritt durchgehen und an den Problematiken stetig arbeiten. Es gibt viele Kleinigkeiten zu beachten, die wichtig sind und man muss wirklich alles ganz genau beschreiben, was man von den Teilnehmer*innen erwartet.

Stefan: Als Team können wir den Teilnehmer*innen in dieser Situation lediglich Bildungsangebote setzen, Druck und Stress wären der falsche Motivator. Wenn es die Situation nicht anders zulässt, müssen halt auch Zertifikatskriterien geändert werden, am besten unter Einbeziehung der Teilnehmer*innen.

REFAK-Team: Plant ihr für die Zukunft, virtuelle Lernformate in die Gewerkschaftsschule zu einzubauen, auch ohne Corona?

Stefan: Möglicherweise Diskussionsveranstaltungen, die man live streamt. Aber Bildungsangebote im Rahmen der Gewerkschaftsschule online abzuhalten macht kaum Sinn, weil die didaktische Ausrichtung ja auf den starken Austausch untereinander abzielt.

Autor*innen: Pia Lichtblau und Ulli Lipp

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2 Gedanken zu „Gewerkschaftliche Bildungsarbeit goes online

  1. Timur Kolinko

    Danke für das Teilen eurer Erfahrungen. Ich finde es sehr spannende und anspornend zu hören, wie ihr mit dieser schwierigen Situation umgegangen seid. Genau so entwickeln wir die gewerkschaftliche Bildungsarbeit weiter.

    Antworten

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